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berliner szenenPetersburger Hängung in einem Puff

Weihnachten stand schon wieder vor der Tür – und damit eine lange Reihe von Zusammenkünften, die sich übers Jahr nicht hatten ergeben können oder wollen. Es gab Erfreuliches zu berichten und zu befeiern, wie die Diplomarbeit eines alten Freundes über Arten des Vergessens, die mit 20-jähriger Verspätung nun endlich doch noch in die Zielgerade ging (weil der Studiengang demnächst eingestellt wurde), und weniger Erfreuliches, wie verschiedene Wohnungswechsel in die Randbezirke, vulgo: Verdrängung.

Ein Abend galt der Atelieraufgabefeier eines befreundeten Künstlers a. D., der neben seiner Quereinsteigerkarriere als Kunstlehrer einfach immer weitergemalt hatte. Das Ergebnis war in schöner Petersburger Hängung über einem Weddinger Puff zu bewundern und wirkte im Ofenschein, bei Printen und Glühwein angenehm surreal. Hauptlos der Auktion war eine Plüschhyäne, die der Künstler selbst gestopft und genäht hatte und die mit ihrem Silberblick ein kleines Mädchen hypnotisierte, das mutterseelenallein durch die Räume irrte, während der Hausherr „White Christmas“ auflegte. Irving Berlin, der weder Noten lesen noch schreiben konnte, hatte den Song seinem Sekretär Januar 1940 in die Feder diktiert, nicht ahnend, dass er gerade die erfolgreichste Single aller Zeiten auf den Weg gebracht hatte. 125 Millionen Mal verkaufte sich das auf Platz 2 hinter „Over the Rainbow“ und vor Woody Guthries „This Land is Your Land“ in der Liste der Songs of the Century rangierende Lied bis heute, und jedes Jahr kommen einige Millionen Einheiten hinzu.

Das Mädchen fand seine Mutter schließlich wieder, die Hyäne zog es an einer Leine hinter sich her und versicherte allen hochheilig, es handle sich um das Rentier des Weihnachtsmannes.

Sascha Josuweit

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