berliner szenen: Die Katze nur knapp verfehlt
Es war etwas, das wir teilten: die schwierigen Hintergründe. Die Kämpfe, die dysfunktionalen Familiengeschichten. Als meine Eltern sich scheiden ließen, war ich 23. Das war meine Glückszahl (die Buslinie war die 104, übrigens). Die Scheidung meiner Eltern aber war kein Glück, auch kein verspätetes (ich hatte mir früher oft gewünscht, dass sie sich scheiden lassen). Im Gegenteil, sie bedeutete das Ende von allem. Das Ende der Kleinfamilie, das Ende der Provinz, das Ende der Religion, das Ende des Glaubens an die romantische Liebe. Das Viertel, durch das wir gerade fuhren, kann mir vage bekannt vor, ein vorgelagertes Wohnviertel, heruntergekommen, auf die nächste Gentrifizierungswelle wartend, die nie kommen würde. Da mich meine erste Freundin ebenso verlassen hatte wie meine Mutter meinen Vater, gab ich mich fortan gewarnt. Liebesbeziehungen hielten nicht, waren temporär, sogar unnütz. Dass die Frau, mit der ich zusammen war, mich liebte und nicht so schnell und ohne Weiteres verlassen würde, konnte oder wollte ich nicht sehen. Die schwangere Türkin gähnte herzhaft und lächelte mir zu. Ihre holzbraunen Augen leuchteten, worüber ich mich wunderte. Meine eigenen waren grau. Eisgrau. Ich lächelte jetzt auch, sie schlug die Augen nieder. Und wie bescheuert war es eigentlich, sich in eine Exfreundin zu verlieben? Am Ende war es nur irgendetwas Verbotenes. Ein Tabu, an das das Kind in mir rühren wollte. Als ich mich nach der nächsten Haltestelle umsah, legte der Bus eine Vollbremsung hin. Eine Katze war über die Fahrbahn gelaufen. Wie auf dem Dorf! Der Bus verfehlte sie knapp. Die Passagiere hielten sich erschrocken an den Stangen fest. Plötzlich kehrte Ruhe ein, kurzes Aufatmen, dann kam eine Durchsage. Irgendwer verletzt? Nein, niemand. Die Fahrt ging weiter. René Hamann
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