berliner szenen: Flaschen können verbinden
Vor Netto sitzt meist eine junge Frau auf einer Decke und raucht. Sie sieht noch ganz fit aus. Manchmal steckt ihr jemand was zu oder bleibt vor ihr stehen zum Reden. Eine Rollstuhlfahrerin im alternativen Schick der 80er Jahre fährt neben mir in den Supermarkt. Sie ist vielleicht Mitte 40. Ihr Fuß schleift verdreht in einem Spezialschuh über den Boden. Wahrscheinlich hat sie den gleichen, durch zu viel Alk verursachte Diabetestyp wie mein Freund M. Sie hat zwei Taschen mit leeren Flaschen dabei und redet ununterbrochen.
Ich frage, ob ich helfen kann und stecke ihre Flaschen in die Flaschenpfandmaschine, während sie von den Leuten redet, die ihr das Leben schwer machen. Dem Freund, mit dem sie essen war und er hatte sein Portemonnaie nicht dabei, sodass sie alles bezahlen musste und er hat ihr das Geld nicht wieder gegeben. Dann kommt noch ihre Mutter dieser Tage zu Besuch. Am Boden der einen Tasche liegt eine Schere, mit der sie ihre Flaschen immer öffnet. Sie hätte das lange auch mit Feuerzeug versucht, aber es geht nicht und die Schere sei sowieso stumpf und ungefährlich.
Ich denke an das witzige Buch aus den achtziger Jahren „77 Tricks, eine Bierflasche zu öffnen“, dass mir mein Bruder zu Weihnachten geschenkt hatte. Manchmal unterbricht sie mit einem „Entschuldigung, dass ich dich so vollquatsche“. Ich antworte „kein Problem“ und ärgere mich, weil der Automat die Tyskie-Flaschen nicht will, obgleich ich sie hier gekauft hatte. Sie empfiehlt einen Späti, bei dem alle Flaschen willkommen sind.
An der Kasse erzählt sie der Kassiererin die gleichen Geschichten, hastig, um möglichst viel Inhalt pro Sekunde transportieren zu können. Draußen schenke ich der jungen Frau die vier Tyskie-Flaschen, die der Automat nicht haben wollte.
Detlef Kuhlbrodt
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