berliner szenen: Sie ist klein und spürt es noch
Vor mir an der Supermarktkasse dauert es, eine Kundin bezahlt mit Centstücken. „Das gibt es doch nicht.“ Der Kunde hinter ihr wird laut. „Das ist doch eine Unverschämtheit hier.“ Seine Wut schaukelt sich wellenartig auf. Er grabbelt hastig nach seinen Einkäufen – kaum möchten ihm die zornbebenden Finger gehorchen –, nimmt seine sieben in Plastik verschweißten Aufschnittpackungen vom Band, ruckartig, ostentativ, begibt sich damit zur Nachbarkasse und stellt sich dort ganz hinten an.
„Da kommt ihr euch toll vor! Dass ihr die Macht habt.“ Es ist unklar, ob er das Kassenpersonal meint, die Kupfermünzenfrau, uns alle, oder auch alkohol- oder anderweitig induzierte Nervenerkrankungen, die die Macht über sein Verhalten erlangt haben. Er schimpft weiter, die anderen Kunden beruhigen sich, er ist wohl nicht gefährlich. Manche grinsen nun, doch fast alle blicken weg. Ich schaue hin und überlege, ob ich vielleicht ein wenig Öl ins Feuer gießen möchte. Nö.
Ein kleines Mädchen vor mir an der Kasse hat ein bisschen Angst. Nach fast fünfunddreißig Jahren in dieser Stadt kann ich längst nicht mehr unterscheiden, ob die Menschen aggressiv oder fröhlich sind – das scheint mir hier ohnehin eins zu sein –, doch sie spürt es noch genau. Sie ist kaum so hoch wie das Kassenband und gerade sichtlich froh darüber, wie in einem Schützengraben dahinter zu verschwinden. Die Mutter beugt sich zu ihr herab und erklärt ihr in beruhigendem Ton, dass der Mann es sehr eilig habe und gleich drankommen möchte. „Eine dritte Kasse, bitte“, ertönt nun die Durchsage, denn er steht immer noch ganz hinten, während an meiner Kasse die Kleingeldfrau längst durch ist. Niemand geht an die neu eröffnete Kasse, die hat der Zeternde exklusiv. Der Kassierer wünscht ihm freundlich einen schönen Tag.
Uli Hannemann
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