berliner szenen: Wie ein Stiel voller Ameisen
Im Hinterhof, wo Ende 2018 noch ein Kastanienbaum stand, ist jetzt eine Baustelle. Ich brauche keinen Wecker mehr, denn die Bauarbeiter beginnen jeden Tag (außer sonntags) spätestens um 8 Uhr direkt gegenüber meinem Schlafzimmerfenster zu arbeiten. Ich höre nicht nur die Baumaschinen, sondern auch Gespräche und Schreierei. Manchmal singt einer in einer Sprache, die ich nicht verstehe, und das macht mir gute Laune.
Es werden Wohnungen errichtet, wo früher manche Bewohner*innen des Nachbarhauses gegrillt oder Bier getrunken haben. Wenn die Bauarbeiter mit dem nächsten Stockwerk fertig werden, werden sie die Höhe meines Zimmers erreichen. „Du solltest dir Vorhänge besorgen“ bekomme ich oft zu hören, doch ich mag keine Vorhänge. Später, wenn das Haus fertig und vermietet wird, werde ich die neuen Nachbarn auch beobachten können und sie mich. Das finde ich nicht schlimm. Nur, ich kann mich nicht daran gewöhnen, dass der Baum auf einmal weg ist. Er war höher als alle Häuser um ihn herum und hat sich bei heftigen Stürmen manchmal so gebeugt, dass ich dachte, er könnte brechen oder fallen. Aber es ist nie so weit gekommen.
Der Baum war mein erstes Bild, als ich aufwachte. Ich hatte immer den Anfang der Jahreszeiten bei ihm bemerkt. Am schönsten fand ich, wenn es nach dem langen Winter wieder Frühling wurde, sowie die Farbtöne der Blätter im Herbst. Und im Sommer auf dem Balkon sitzen und mit Blick auf den Baum frühstücken. Die Vögel haben ihn auch gemocht. Jetzt ist der Kran am frühen Abend voller Vögel, die einen Hitchcock-Auftritt machen und sich auf den Kran setzen (wie ein Stiel voller Ameisen), dann durcheinanderzwitschern und im Kreis fliegen. Es hat schon was, doch ich schaue nicht mehr gern aus dem Fenster, wenn ich im Bett liege. Luciana Ferrando
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