berliner szenen: Sing das Loblied der Urinprobe
Ich legte die Zeitung weg, nahm meine Tasche und bewegte mich zum Tresen. Als die Sprechstundenhilfe meine Gesundheitskarte durch den Scanner zog, sagte sie „Schauen wir mal, was Phase ist“ und sah auf ihren Monitor. Ihre Stimme klang wie von einem Distortion Pedal verzerrt. An ihrem Kittel haftete ein Namensschildchen mit einem ausländisch klingenden Namen. Ich wollte eine neue Verordnung, jetzt, da ich endlich die Genehmigung für eine außerhalb des Regelfalls von der Krankenkasse hatte, obwohl ich sie fast nicht mehr brauchte. „Das wird schon, aber rein müssen Sie trotzdem kurz“, sagte sie.
Ich lächelte ihr etwas hilflos zu, sah verlegen auf ihren Schreibtisch, las ein wenig von ihrer offen liegenden Whats-App-Konversation und dachte, dass man ein Loblied auf die Sprechstundenhilfen dieser Welt singen sollte, ein Loblied der Urinprobe als täglich Brot, ein Loblied auf die Frauen in den aseptisch weißen oder operativ grünen Kitteln, die in ihren Nischen leise das Radio laufen ließen. Ein Loblied der Tresenfee. Meine Oma war das gewesen, eine Sprechstundenhilfe, auch über ihren ersten Chef hinaus, der sich eines Tages erhängt hatte. Eine medizinische Assistentin avant la lettre, die stets die rechte Pille wusste und die richtige Vene fand.
Die Tresenfee mit dem ungarisch klingenden Namen klickte sich durch Verzeichnisse und sagte, ich könne schon mal durchgehen. Ins Behandlungszimmer 1, aus dem just der kleine Mann kam. Er lächelte schüchtern, setzte sich eine Baseballkappe aus Jeansstoff auf und nickte uns zum Abschied zu. Dann verschwand er hinter der nächsten Tür. Ich konnte noch erkennen, dass er hellbraune Mokassins trug. Ich dachte kurz über weiche Schuhe auf dem harten Boden der Tatsachen nach, da streckte mir der Neurologe bereits aus der Tür die Hand entgegen. René Hamann
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