berliner szenen: Das alte Haus von Ernst
Ich gehe so auffällig wie möglich um das Haus in der Friedrich-Engels-Straße in Hohen Neuendorf herum und fotografiere immer wieder ostentativ mit meinem Handy. Ich hoffe, dass irgendwann jemand ans Fenster kommt und ich ihn oder sie in ein Gespräch verwickeln kann. Dann könnte ich dieser Person das kleine Schwarz-Weiß-Foto aus den späten 30er Jahren zeigen, auf dem das Haus zu sehen ist, als es ein Neubau war und die Bäume am Straßenrand noch mickrig. Dann könnte ich dieser Person erzählen, dass mein Urgroßonkel Ernst es vor gut achtzig Jahren gekauft hatte.
Leider kommt niemand, um sich aufzuregen. Durch ein geöffnetes Fenster höre ich zwei alte Damen in der Küche miteinander sprechen. Es riecht nach Sonntagsbraten. Dann wird das Fenster zugemacht. Der Bratengeruch liegt weiter in der Luft. Ich mache noch ein Foto von der Haustür und laufe zurück zum S-Bahnhof. Es ist ein feuchter, grauer Tag. Vielleicht wollen die alten Damen gar nicht wissen, dass sich Onkel Ernst im Januar 1941 auf dem Dachboden ihres Hauses aufgehängt hat.
Im Café am Bahnhof kaufe ich einen Kalender mit historischen Fotos. Aus dem erfahre ich: Gegenüber wurde ebenfalls vor 80 Jahren ein „harmonisches Bauensemble“ errichtet. In den 50er Jahren waren da „Radio Rummler“ und ein Friseursalon. Eine Mitarbeiterin erinnert sich an die Frau von „Zaubermeister Kassner“, die dort ihre „tizianroten“ Haare schneiden ließ. Nach dem Mauerbau eröffnete dort eine Gemüseverkaufsstelle, nach der Wende ein Geschäft für Fahrrad- und Autobedarf. 2002 wurden die Eckhäuser abgerissen, heute steht dort ein Kaufland. Ob der Supermarkt in achtzig Jahren noch da sein wird? Vielleicht ist er dann genauso verschwunden wie Onkel Ernst, die Frau von Zaubermeister Kassner und bis dahin auch ich.
Tilman Baumgärtel
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