berliner szenen: Die Situation spreche für sich
Draußen Winterdämmerung, drinnen glänzender Marmorboden. Ein Frühstückscafé am Prager Platz, der Raum wirkt wie eine viel zu klein geratene Bahnhofswartehalle des ausgehenden 19. Jahrhunderts und ebendarum gemütlich. Drei zusammengeschobene Bistrottische, rund und steinern, drum herum sechs ältere Damen und Herren.
„Ich vertrete!“, ruft eine, ihr Pinscher liegt im Körbchen neben ihr und spitzt die Ohren. „Im Interesse!“, ruft sie und dass das in aller Deutlichkeit gesagt sei; alle haben verstanden, Arme verschränken sich vor Brüsten, es wird sich zurückgelehnt, Stirne runzeln sich. Dann löst sich eine Hand, weich geht sie durch die Luft, es wird bestätigt, aber: „Große Schwierigkeiten!“, die Situation spreche für sich. Die Situation allerdings scheint davon nichts zu wissen, eine weitere Hand löst sich und fährt gen Himmel, hinter ihr sagt einer, er sei ein Mann der Entscheidung, dem etwas vorzuwerfen nicht möglich sei. Von allen unbemerkt, schwebt ein alkoholfreies Bier mit Zitrone an den Tisch, derweil von „den einfachen Dingen“ die Rede ist, auf die werde man aufpassen müssen oder hätte aufgepasst haben müssen oder werde künftig aufgepasst haben müssen oder sollen, in diesem Punkt herrscht Uneinigkeit. Ein Arbeitskreis soll gebildet werden, keiner will beitreten.
Der Hund streckt die Zunge, sie geht bis übers Kinn, er legt sie auf den Körbchenrand, und darauf dann der Kopf. Der Hund schließt die Knöpfchenaugen, wer will es ihm verdenken. Zwei Stunden, zwei alkoholfreie Biere mit Zitronen später ist Top 2 der wöchentlichen Ortsgruppensitzung der Violetten beendet, im Protokoll wird er unter dem Titel „Reisekostenabrechnung zum Parteitag“ geführt oder ist geführt worden oder wurde geführt. Dem Hund eitert ein Auge, das verstehe ich gut. Frédéric Valin
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