berliner szenen: Der Papagei in der S-Bahn
Die S-Bahnen und U-Bahnen Berlins bergen ein Sammelsurium von Menschen aller Art, denen ich sonst nirgendwo begegne. Leider bin ich oft zu gestresst oder zu erschöpft, um all diese wunderbaren Gestalten gebührend zu betrachten. Letztens stand ich in der S46, genervt und beladen, und verbrauchte meine letzte Kraft, um hektisch Blicke nach links und rechts zu werfen, auf der verzweifelten Suche nach einem freien Platz. Als ich wider Erwarten doch noch einen erblicke, hechte ich hin, lasse mich schwerfällig nieder und atme auf.
Erst nach einer Weile schaue ich hoch, um mit frischem Interesse um mich zu blicken, wer alles nicht das Glück hat, die weitere Fahrt sitzend zu verbringen. Da sehe ich auf einmal einen jungen Mann mit einem grünen Papagei auf der Schulter. Nun bin ich mir gar nicht so sicher, ob es ein Papagei war oder nicht. Es gibt ja noch einige andere große, bunte, exotische Vögel, die keine Papageien sind. Allerdings lässt mich mein klischeehaftes Wissen vermuten, dass es sich hierbei doch um einen Vertreter seiner Art handeln müsste. Denn diese sitzen bekanntermaßen immer auf Schultern.
Die großen Volieren im Zoo waren für mich als Kind immer eines der Highlights, viel besser als Elefanten oder Erdmännchen. Zwar fand ich die Papageien eher langweilig, weil sie nicht, wie erhofft, mit mir redeten, aber ein Besuch bei den Keas war immer hochinteressant. Diese hatten in ihren Käfigen Bobbycars und anderes Plastikspielzeug, das sie aus purer Lust mit raffinierter Gewalttätigkeit zerlegten.
Der Mann mit dem Papagei steigt aus. Mein Sitznachbar, ein Mitarbeiter der BVG, murmelt: „Jeder Mann hat seinen Vogel.“ Ich sehe den Papagei in der Menschenmenge verschwinden und bin ihm dankbar. Fast hatte ich die Keas vergessen.
Marlene Militz
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