berliner szenen: Dem Leben einen Tag geklaut
Der Wetterbericht im Internet macht unmissverständlich klar, dass heute der letzte Sommertag ist. Heute nochmal 30 Grad, ab morgen Regen, und in der kommenden Woche auch an Sonnentagen nur noch 16 bis 18 Grad.
Als alle aus dem Haus sind, stopfe ich noch einmal Badehosen, Flipflops, Handtuch und ein Buch in meinen Rucksack und setzte mich in den Regionalexpress nach Potsdam. Dort miete ich per App ein klobiges Fahrrad, radel über die Gleise nach Süden und dann aus der Stadt hinaus. Nach einer Viertelstunde bin ich im Wald, kurz danach weht mich von rechts herrlicher Seegeruch an und ein paar hundert Meter weiter leuchtet der Templiner See blau durch die Bäume. Niemand weiß, wo ich bin. Ich habe das Gefühl, als hätte ich dem Leben einen Tag geklaut.
Im letzten Strandbad Potsdams, das noch geöffnet hat, bin ich fast allein und gönne mir zur Feier des Tages einen Strandkorb mit Seeblick. Direkt vor mir eine weite, dunkelblaue Wasserfläche, gesäumt von tiefgrünen Bäumen am anderen Ufer und gerahmt von etwas Schilf. Darüber ein Himmel mit ein paar Schäfchenwolken. Ab und zu tuckert ein Boot vorbei. Das Wasser hat noch 20 Grad, für ein paar Runden reicht es. Das ist der würdige Ausklang eines Sommer, in dem ich im Atlantik und im Prinzenbad, im Gänsehäufel in Wien und in etwa einem Dutzend Seen und Flüssen in Brandenburg geschwommen bin. Wieder im Strandkorb ziehe ich eine trockene Badehose an. Dann lasse ich die Rückenlehne nach hinten kippen und die Sonne auf meine Beine scheinen. Es ist überirdisch. Ich will hier nie wieder weg. Wie kann diese Herrlichkeit morgen vorbei sein?
Auf der Heimfahrt sitze ich in einem überfüllten Bahnwaggon, in dem die Klimaanlage ausgefallen ist. Mir läuft der Schweiß nur so herunter. Der Herbst kann kommen. Tilman Baumgärtel
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