berliner szenen: Was denken die Nachbarn?
An ihrem Balkon haben meine Nachbarn eine große Deutschlandflagge befestigt. Sie hängt dort schon das ganze Jahr. Schielt man an ihr vorbei in die Wohnung, sieht man dort einen großen Hund aus Plastik. Der Mann und die Frau, die dort wohnen, sind immer zu Hause. Das weiß ich, weil ich oft von zu Hause aus arbeite, so wie heute. Und sie, wie so oft, auf der Tischtennisplatte im Innenhof sitzen, ich sie durch das gekippte Fenster schreien höre, so wie jetzt.
Die Kinder rennen um die Tischtennisplatte herum und spielen. Die Frau hat einen krächzenden Ton in der Stimme und fährt die Kinder an: Mach dies so, mach jenes so. „Komm her“, „lass das“. Als könnten sie es ihr nicht recht machen. Wenn sie nicht gerade die Kinder anfährt, trifft es ihn. Und umgekehrt.
Laufe ich an den beiden vorbei, grüße ich immer recht freundlich. Immerhin sind es die Nachbarn. Ich bin im Dorf groß geworden, da macht man das so. Die Nachbarn zu grüßen ist das mindeste, und die da unten gehören zu den wenigen im Haus, die ich überhaupt kenne.
Ich glaube, er und sie arbeiten beide nicht. Aber vielleicht ist das auch bloß mein Vorurteil. Was sie wohl mir gegenüber für Vorurteile haben, frage ich mich im nächsten Moment. Wenigstens liegt meine Wohnung nicht im Erdgeschoss und sie können mir nicht durchs Fenster schielen. Dass ich mich frage, was sie denken, ist wohl auch so eine Dorf-Attitüde von mir, die Frage: Was denken die Nachbarn? Als würden sie sich für mich interessieren.
Ihre Kinder haben das Nichtgrüßen übernommen. Manchmal presst die Tochter die Lippen aufeinander, um ein Lachen zu unterdrücken, als wolle sie sagen: „Nee, ich grüß dich nicht, ätsch“, wenn ich „Hallo“, sage oder „Guten Morgen“.
Ich schließe das Fenster, um weiterzuarbeiten.
Lea Diehl
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