berliner szenen: Die Berliner halbe Stunde
Seit ich in Berlin wohne, habe ich ein Pünktlichkeitsproblem. Ich komme ständig zu pünktlich. Dass die Uhren hier anders ticken, musste ich schon in etlichen Situationen lernen. Wenn man sich mit Berlinern für eine Uhrzeit verabredet, scheint das ein ungefährer Zeitbereich zu sein, ab dem die Zeitspanne bis zum eigenen Erscheinen zwischen zehn Minuten und einer halben Stunde variieren kann. Sitze ich bereits zwanzig Minuten im Café und Freundin M. ist immer noch nicht da, habe ich mir anfangs Gedanken gemacht. Naiv eine Nachricht geschrieben, ob ich mich in der Zeit oder im Ort vertan habe. Inzwischen weiß ich, dass M. nach weiteren zehn Minuten mit einem fröhlichen Lächeln reinschneien und nicht ein Wort über ihre Verspätung verlieren wird. Nicht wer in Berlin unpünktlich ist, ist seltsam, sondern die Pünktlichen sind es. Vielleicht wäre von meiner Seite aus ein „Tut mir leid, meine U-Bahn kam einfach viel zu pünktlich“ angebracht.
Jetzt könnte ich natürlich mit der Zeit gehen und die halbe Stunde Berliner Verspätung direkt einplanen. Eine tolle Lösung, wenn sich die Berliner Zeitverschiebung nur auf den Freizeitstress bezöge. Doch auch in der Uni kommen Kommilitonen und Dozierende regelmäßig zu spät. Nur ist es hier nicht so planbar. Die verlässliche halbe Stunde meiner Freunde wird manchmal, aber eher selten erreicht. Meist beläuft sich die Zeitverschiebung eher auf 10 bis 20 Minuten – offiziell studieren wir ohne das akademische Viertel. Aber wie sicher ist es, dass wieder fast alle zu spät kommen? Meine innere Uhr legt den Pünktlichkeitsdrang nicht ab, solange die Möglichkeit besteht, dass eine Veranstaltung zur angegebenen Zeit beginnt. Bleibt nur einsames Kaffeetrinken. Manchmal entstehen dabei verzweifelte Texte. Wie dieser hier. Linda Gerner
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