berliner szenen: Mit Skelett, aber keine kuckt
Ich muss ein Skelett transportieren. Warum, ist jetzt nicht weiter wichtig – ich muss; einmal quer durch die Stadt, von unten links nach oben rechts. Das Skelett ist in einer Tasche, gefaltet in Embryonalhaltung. Die Tasche ist alt. An einem Ende sticht die Halterung vom Skelett durch den Stoff. Ich habe Angst, dass er reißt, die Knochen rollen.
Aber dann wiederum sollen die Knochen ruhig rollen, denn als ich so in der Bahn sitze, bin ich enttäuscht. Keine Sau interessiert sich dafür, dass da so ein Skelett mit mir reist. Keine_r guckt, dabei hatte ich mir gerade das voll spannend vorgestellt. Weil die Fahrt von links unten nach rechts oben dauert ‚ne Weile; ich will Unterhaltung. Unterhaltung für mich sind Blicke: Wer guckt wohin und warum?
Aber es guckt immer noch keine_r auf das Skelett.
Ich gucke selbst. Doch, doch, man sieht die Knochen. Der Brustkorb wölbt die Tasche so weit auf, dass man sogar ganz schön viele sieht: den Brustkorb selbst, einen Arm, Elle und Speiche, und auch den Schädel, abgenommen, in zwei geteilt, damit er nicht allzu weit rollt, falls er aus Versehen rollt.
Soll ich ihn rollen lassen?
Langsam find ich‘s unverschämt, dass sich keine_r für meine Spezialladung interessiert. Ich würde da gucken. Ich guck immer, wenn‘s in der Bahn was zu gucken gibt. Meine Freundin fällt mir ein: Mit ihrem Mantel hat sie mal in der Tür festgehangen, weil die sich zu schnell schloss. Sie zog und zerrte, vollkommen absurd – und doch hat auch da keine_r geguckt. Ganz geknickt war sie, als sie mir das erzählte.
Ich bin jetzt genauso geknickt. Was ist los mit der Welt? Warum starren die Leute nicht mehr, wenn‘s was zu starren gibt?
Und so sitz ich, geknickt, von unten links nach oben rechts, sitze mit meinem Skelett. Und nein: Die ganze Zeit hat wirklich niemand geguckt. Joey Juschka
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