berliner szenen: Was geschieht, wenn er aufwacht?
Der ältere Hippie, ein Waldschrat mit wirren langen Haaren, stand völlig unbewegt an der Straßenecke, den Blick schräg nach oben gerichtet. Vielleicht schaute er zu einer bestimmten Wohnung hin, aber das ließ sich nicht so genau sagen. Eigentlich war er auch mehr der Fool-on-the-Hill aus dem Lied der Beatles oder die Karikatur eines Minnesängers, vielleicht ein Stalker. Die Turnschuhe alt und aufgebraucht, die Jeans zerschlissen, Holzfällerhemd mit Bart. Helle Haut und blaue Augen. Er wirkte abwesend in seiner Trance, deshalb traute man sich nicht so richtig, ihn zu beobachten. Was würde geschehen, wenn er aufwacht?
Ich ging weiter und dachte an den Performancekünstler Erdem Gündüz, der vor fünf Jahren, während der Gezipark-Proteste in Istanbul, acht Stunden lang in gleicher Stellung verharrt und die Atatürk-Statue angestarrt hatte. Ein paar Wochen hatte es eine regelrechte Bewegung der stehenden Leute gegeben.
Eine Stunde später ging ich wieder an der Straßenecke vorbei. Der stehende Mann stand immer noch da. Vielleicht war er auch auf LSD oder irgendwelchen neumodischen Drogen und sah seltsame Dinge. Hatte ich ihn nicht im Frühjahr gesehen, als er – in der Stresemannstraße – an einem Busch gestanden und Blätter gegessen hatte? Ein paar türkische Jungs auf Fahrrädern guckten kurz neugierig, wandten den Blick aber wieder ab.
Ich ging weiter und schaute dann eine Weile zu, wie sich M. an meinem Laptop zu schaffen machte. Zwei Stunden später, glücklich mit dem neu zusammengeschraubten Laptop im Rucksack, wollte ich wieder nach Hause fahren. Kurz vor dem Kotti drehte ich wieder um, weil mir eingefallen war, dass ich meinen Tabak bei M. vergessen hatte. Bei M. stellte ich fest, dass ich auch das Laptop-Netzteil vergessen hatte. So ein Glück! Endlich ging’s dann wirklich nach Hause. Der Mann stand immer noch da. Detlef Kuhlbrodt
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