berliner szenen: Verzögert sich die Weiterfahrt
Ich musste zwei Stunden länger im Büro bleiben, da vor lauter Besprechungen kaum Zeit zum Arbeiten blieb. Nun renne ich über einen vereisten Kiesweg zur Tram: In einer Stunde habe ich noch einen Abendtermin. Die BVG-Seite zeigt eine Verbindung mit viermal Umsteigen. Eigentlich wollte ich die Zeit zwischen Arbeit und Abendtermin noch an einem Text arbeiten. Jetzt wird es bereits knapp, pünktlich zu dem Termin zu kommen. Ich beschließe, wenigstens meine Fahrzeit effektiv zu nutzen und endlich die letzten Seiten von Nick Hornbys „How to be good“ zu lesen. Ich hätte das Buch bereits gestern in die Bibliothek zurückbringen müssen. Die Verlängerungsfrist ist abgelaufen.
Nick Hornby bringt mich immer zum Lachen: Trotz ständigen Umsteigens bin ich sofort wieder in der trocken erzählten Geschichte einer von Arbeits- und Familienleben in eine Sinnkrise getriebenen Frau drin und habe bereits ganz vergessen, wo ich mich befinde. Da bleibt meine letzte Bahn bereits nach zwei Stationen unvermittelt auf der Strecke stehen: „Wegen eines Unfalls am S-Bahnhof Hermannstraße verzögert sich die Weiterfahrt auf ungewisse Zeit.“
Ein Raunen geht durch den Waggon. Ein älterer Herr sagt: „Sicher schon wieder ein Selbstmordversuch. Der arme Fahrer!“ Eine Frau schimpft: „Wenn wir es einmal pünktlich aus der Arbeit schaffen!“ Der Mann neben ihr nickt düster: „Wenn meine Überstunden angerechnet würden, könnte ich noch dieses Jahr in Pension.“ Die beiden starren aus dem S-Bahn-Fenster in den nächtlichen Himmel. Dann sagt die Frau: „Aber bei uns geht es ja sogar noch. Gerade neulich erst gab’s wieder einen Bericht über einen Banker in den USA, der sich sprichwörtlich zu Tode geschuftet hat. Drei Tage am Stück ohne Pausen. Wenigstens haben wir irgendwann immer Feierabend.“ Eva-Lena Lörzer
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