berliner szenen: Nicht ganz allein sterben
Wir gehen durch Kreuzberg spazieren, durch die Bergmannstraße an dem großen Friedhof vorbei. Es ist ein schöner Tag, die Sonne scheint. Der eine von uns kann nicht richtig laufen, humpelt etwas, das kommt von der gerade überstandenen Miniskusoperation.
Auf dem Boden liegt ein Mann, er ist bewusstlos. Ein anderer macht Herzmassage, eine Frau steht daneben. „Brauchen Sie Hilfe?“, fragen wir.
Nein, die Sanitäter seien alarmiert. „Das ist Horst, wir haben uns nach 20 Jahren wiedergetroffen. Eben ging es ihm noch gut, dann ist er umgefallen. Der hat ganz gern mal einen getrunken.“
Der Rettungswagen kommt, die Helfer springen heraus, sie lösen den Mann auf Horst ab. Defibrillator, Wiederbelebungsmaßnahmen. Eine Frau kommt vorbei. „Hey, ich bin Ärztin“, trällert sie ein bisschen manisch. „Braucht ihr was?“
Eine der Sanitäter sagt: „Ja, haben sie zufällig eine Ampulle Adrenalin dabei? Die wäre jetzt echt nützlich.“
Die Frau macht: „Puh, Pfft.“ Sie sagt: „Nee, also das jetzt leider nicht. Also vielleicht ist eine in meiner Arzttasche, aber die ist zu Hause, die müsste ich dann erstmal holen. Nee, also: Sorry, Leute. Echt megasorry.“
Die Sanitäter hören auf zu arbeiten. Einer sagt: „Das war es. Der Mann ist tot.“
Horsts Bekanntschaft wendet sich an uns: „Also das war sehr nett von euch, dass ihr hiergeblieben seid. Da musste er nicht so alleine sterben.“
Wir wissen nicht recht, wie uns zu Mute ist. Wir denken aber, das war richtig so. Du gehst ein wenig spazieren, warst dabei, wie ein Mensch stirbt.
Im Hintergrund hört man Sirenen, es kommt ein Feuerwehrwagen aus der Richtung Marheinekeplatz, noch ein Rettungswagen und der Notarzt. Wir verabschieden uns. Beate Willms
Jürgen Kiontke
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