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berliner szenenWat mach ick ohne Schätzchen

Durch einen Termin verschlägt es mich an den S-Bahnhof Greifswalder Straße. Vor 17 Jahren habe ich um die Ecke gemeinsam mit einer meiner besten Freundinnen gewohnt. Jetzt stehe ich ungläubig vor unserem ehemaligen Haus: Die Balkone sind erneuert worden, die brüchige Fassade wurde saniert, im Untergeschoss befindet sich jetzt ein Antiquitätengeschäft. Eine gut gekleidete Frau zieht einen leeren Zwillingskinderwagen hinter sich her aus der Tür. Ich schleiche an ihr vorbei ins Hausinnere.

Früher war der Hausflur voller Graffiti und Tags. Ich renne in den ersten Stock, um zu sehen, ob die großformatige anonyme Liebeserklärung meines Freundes noch da ist. Die Wände aber sind alle geweißelt worden, das Treppenhaus ist kaum wiederzuerkennen.

Im zweiten Stock sehe ich nach dem Nachbarn unter uns: Auch er ist nicht mehr da. Ich erinnere mich an unseren schweren Start mit ihm: Meine Freundin und ich gingen tagsüber in die Schule und renovierten unsere unsaniert übernommene Wohnung in den Nächten. Schon in der ersten Nacht hämmerte er volltrunken in Unterwäsche an unserer Tür und schrie: „Aufhören, ihr Vollpfosten!“ Wir stellten uns tot und beendeten die Arbeit. In der zweiten Nacht baten wir ihn herein und boten all unseren Charme auf, zu erklären, warum wir nachts streichen mussten.

Beim Anblick unserer Wohnung hatte er sofort Sympathien. Seitdem legte er uns an allen Feiertagen Süßigkeiten vor die Tür und schrieb Grußkarten an die „lieben Schätzchen“. Schätzchen war der Name unserer Vormieter – aus Spaß hatten wir ihn an der Klingel stehen lassen. Als wir auszogen, war er untröstlich. „Wat mach ick denn dann nur ohne mee­ne Schätzchen?“, rief er. Ich hoffe, er ist nicht rausgeklagt worden und hat nette neue Nachbarn gefunden. Eva-Lena Lörzer

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