berliner szenen: An der Frankfurter Allee
Rätselnazis
Frankfurter Allee, abends. Man denkt sich nichts. Man steht einfach so an der Straßenbahnhaltestelle, wartet, fröstelt ein bisschen und will nach Hause. Dann kommen sie: fünf Jungs, die sich selbst Herren nennen, grölend, in ihrem Suff nicht unmächtig, und zwei Frauen, stumm daneben, fast gebeugt. Die Herren grölen: „Randale, Randale, Rechtsradikale“.
Wir wissen nicht genau: Feiern sich die Herren Faschisten jetzt auf diese Weise selbst oder sind das hier eher fünf mächtige Pakete der Generation Prolo, die sich gewissermaßen ihren Frust über die ständige Verwechslung mit Nazis von der Seele brüllen? Es geht weiter: „Union, Union, du schaffst es schon!“ Nein, nein, damit meinen sie jetzt nicht die Spendenpartei, es geht vielmehr um Fußball. Das erschließt sich uns Beobachtern dadurch, dass sich die fünf Herren während des Schreiens ständig zwischen die Beine fassen. Verwirrung jetzt bei uns: über uns. Woher sind wir uns unserer Einschätzungen so gewiss? Woher wissen wir was?
Die Tram kommt. Die Herren steigen vorne ein, wir, wohl überlegt, ganz hinten. In der Tram geht das Geschrei dann weiter. „Mensch, hört doch mal auf“, sagt eine der beiden Frauen, doch die Herren fühlen sich davon leider nicht angesprochen. Sie steigern sich. „Deutschland, Deutschland, Juden raus!“, brüllen sie. Wir denken: aha, und lassen unserem Hass freies inneres Wüten. Denn wir sind zwei, und sie sind fünf. Doch die Herren brüllen weiter: „Juden raus, Nazis raus!“ Ohne einen Anflug von Ironie. Ist das Dialektik?
Möglicherweise sind diese Nazis ja gar keine Nazis, sondern zum Beispiel Nationalbolschewisten. Wir wissen es nicht. Das aber wissen wir: Die DDR hat, als sie verschwand, viele Fragen offen gelassen.
JÖRG SUNDERMEIER
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