berliner szenen: Still zwischen Büchern
Think Party
Der Vollmond lächelte milde auf diese viel zu warme Herbstnacht, als ein Wagen blitzeschnelle, langsam um die Ecke fuhr. Und zwar um eine hellerleuchtete Ecke oben am Chamissoplatz, wo immer alle so gerne wohnen wollen, was ich nie verstanden habe: Kopfsteinpflaster, U-Bahnhof zu weit entfernt, LehrerInnen mit Kindern und Hunden. Jedenfalls eröffnete in dieser Nacht ein Buchladen an jener Chamissoplatz-Ecke, meine Begleitung hatte die Ankündigung dafür lustigerweise im U-Bahn-TV gesehen, diese hängenden Kisten, in denen die BZ und andere Spitzen-Kulturorgane einem tonlos Ausgehtipps geben wollen. Offensichtlich waren eine ganze Menge Menschen an diesem Tag U-Bahn gefahren, die Straßenecke quoll über vor schnatternden Bücherwürmern mit Drinks in der Hand. Drinnen fand das statt, was man in früheren Zeiten spöttisch „Think Party“ genannt hatte: man saß einfach so still zwischen Büchern herum. Im Untergeschoß noch mehr Bücher. Ich griff mir ein kleines Erklärheftchen von Frank Stella über sein Bild „Sanbornville“ und lernte mal eben alles über durch die Komposition innerhalb des im vorgegebenen rechteckigen Bildformat entstehenden formalen Gefüges einer Bildordnung. Als mich eine alte Bekannte störte, steckte ich das Bändchen erleichtert wieder neben das Hippiebuch „Johannes“ und lies mir erstaunt von ihr erklären, dass sie kaum arbeiten müsse, weil sie so einen niedrigen Lebensstandard habe: die gleiche Miete wie vor 20 Jahren. Wir kamen überein, dass man von dem, was meine alte Bekannte monatlich zum Leben hat, in München wohl nicht mal einen anständigen Cocktail kriegen würde. JZ
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