berliner szenen: „Und ab!“
Wird sie springen?
Eine kleine Fußgängerbrücke überquert das Niemandsland zwischen Wedding und Prenzlauer Berg, dort, wo sich verschiedene S-Bahnlinien zum so genannten „Nordkreuz“ verknäueln. In Richtung Süden sieht man bei gutem Wetter den Fernsehturm, bei schlechtem Wetter den Turm der Zionskirche. Ein unangenehmer Duft weht auch an diesem Wochenende vom Fuhrpark des BSR-Hofes am Rande des Brachgeländes herüber. Doch die Spaziergänger auf der Brücke stört das nur wenig. Schnaufend stoßen Jogger ihre Atemwolken in die feuchte Nachmittagsluft. Kleine Kinder und kurzbeinige Mischlingshunde taumeln vorüber. Mein Blick schweift über den dunklen Klotz des Flakbunkers am Humboldthain, wo gerade ein Vogelschwarm auffliegt. Dann erst sehe ich die Frau am Geländer. Sie hat eine hellblaue Cordlatzhose an und einen bunten Strickpullover. Ihre grell gefärbten Haare bewegen sich im Wind. Neben ihr lehnt ein klappriges Damenfahrrad. Sie dreht sich und reckt sich und lehnt sich lasziv-bedrohlich über das Geländer. Dann steht sie regunglos da. Wird sie springen? Etwas weiter die Brücke hinunter stehen drei Männer wie in Trance auf dem Asphalt und starren in ihre Richtung. „Und ab!“, ruft plötzlich einer. Die Frau beginnt wieder am Geländer zu turnen. Erst jetzt sehe ich die schwarze Mündung der kleinen Videokamera. Auch das noch! Mit möglichst unauffälliger Miene durchquere ich das Bild, ohne meinen Schritt zu verlangsamen. Noch ein paar Meter … geschafft! Als ich gerade den Aufnahmetrupp passiert habe, läuft einer der Männer auf mich zu. Er klopft mir auf die Schulter. Ich sehe ihn fragend an. Er flüstert: „Vielen Dank, das haben Sie wirklich hervorragend gemacht, einfach großartig!“
ANSGAR WARNER
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