: berliner szenen Spätabends
In der Straßenbahn
„Stell dir vor, ich würde jetzt meine Waffe aus der Tasche holen und sagen: Hände hoch und alles Geld dort auf den Gang. Wär das nicht geil, Alter. Alle würden es machen, alle.“ Die Typen sind gerade eingestiegen und haben sich auf die Plätze vor dem Kassenautomaten gesetzt. Ich weiß nicht, wie sie aussehen, ich stecke meine Nase in ein Buch, das „Ehen in Philippsburg“ heißt und mich im Moment nicht interessiert, denn eine Waffe ist ein stärkeres Argument als ein Buch.
Ich habe das ganz deutlich gehört, aber ich ziehe es vor, mich nicht umzudrehen, das wäre zu viel ängstliche Aufmerksamkeit, eigentlich hören sich die Typen an, als wären sie gerade aus dem Stimmbruch gekrochen und die Pistole nur eine schöne Einbildung. Inzwischen haben sie längst das Thema gewechselt.
„Also nehmen wir diese 17-Jährige, auf der Beerdigung ihrer Schwester.“ – „Ja, ich kann dir folgen.“ Warum fragt der Typ nicht, woran sie gestorben ist? Die kann doch höchstens 30 sein, da stirbt man doch nur, wenn man auf eine Mine tritt oder ein Teratom hat. Macht er nicht. „Dort auf dem Friedhof lernt sie einen Typen kennen und verliebt sich in ihn. Er ist ihr völlig unbekannt, sie weiß nicht, wie er da hingekommen ist, aber die Dinge nehmen ihren Lauf, nur dass er nach dem Sex verschwindet, ohne eine Telefonnummer zu hinterlassen. Dann ermordet die 17-Jährige ihre Mutter.“ – „Boa, wieso das? Weil die die Schwester geboren hat, die nun tot ist?“, fragt der andere. „Mann, ich hatte dich für perverser gehalten. Ich hatte angenommen, dass du annimmst, sie hat ihre Mutter umgebracht, damit sie auf dem Friedhof den Typen wiedertrifft.“ Beim Aussteigen sehe ich, dass die Typen älter als 30 sind. Sie haben ihre Skimützen über die Augenbrauen gezogen. ANNETT GRÖSCHNER