berliner szenen I: Not in der Notaufnahme
Lange warten
In der Ambulanz der Charité warten viele. Eine Frau erklärt, sie sei gekommen, weil sie aus dem Ohr stinke. Zuerst habe sie gedacht, der strenge Geruch stamme von ihrer Katze. Aber dann war es doch ihr Ohr, das sich als Quelle des Gestanks herausstellte. Die Frau regt sich ein bisschen auf, weil es sehr lange dauert, bis man hier als Patient aufgerufen wird. Die Ambulanz ist überlastet. Eine Schwester beschwichtigt einen ungeduldigen jungen Mann mit starken Rückenschmerzen und lenkt ihn zurück zur Sitzreihe. In wenigen Stunden werde er sich nicht mehr bewegen können, glaubt der junge Mann. Seine Freundin, die ihn begleitet, sagt, sie selbst habe Schilddrüsenkrebs. Manche Wartenden sitzen auch ruhig auf ihrem Stuhl und lesen. In der B.Z. steht: 40.000 Berliner nehmen täglich die „Angst-Pille Lipobay“ ein. Die Tabletten stehen im Verdacht, Muskelzerfall und Nierenversagen mit tödlichem Ausgang verursachen zu können. Die Aktie des Herstellers Bayer sei stark gefallen. 4.000 Arbeiter werden ihre Jobs verlieren. Eine andere Zeitung berichtet, dass in einem Vorort von New York eine Leiche vom Himmel gestürzt sei. Der leblose Körper landete direkt vor dem Eingang eines Hummerrestaurants. Gegenüber der Frau mit dem stinkenden Ohr lehnt mittlerweile ein schüchterner Herr an der Wand der Notaufnahme. Er könne nicht auf einem der Stühle Platz nehmen, erzählt er verlegen, weil er beim Sitzen sofort Wasser lassen müsse. Viele Berliner Krankenhäuser werden derzeit privatisiert. Die neuen Eigentümer wirtschaften sparsam. Freie Stellen werden nicht besetzt. Manche Ärzte haben deshalb eine 100-Stunden-Woche.
KIRSTEN KÜPPERS
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