: berliner szenen Die Droge Sonne
Nackt altern
Während im Fernsehen immer die gleichen gesunden Hautempfindungstypen vorherrschen, gibt es im Sommer verschiedene. Weil die Haut der Deutschen nicht für die Sonne gemacht wurde, wird sie eher rotbraunledern, spannt sich und altert rapide, wenn sie lange in der Sonne herumliegt. Die Sonne wirkt wie eine Droge auf den Serotoninhaushalt, und die Bräune ist der Hang-over nach dem Sonnenbaden. Je bräuner jemand ist, desto mehr wird er diese Droge nötig gehabt haben, desto unglücklicher wird er also gewesen sein. Und je nackter jemand ist, desto mehr Loser. Nacktheit schafft Distanz, funktioniert also ähnlich wie die Junkies am Kotti oder diese breitbeinige nackte Frau um die fünfzig am Teufelssee oder wie dieser jesusähnliche Langhaarige, der nur mit einer knappen, komischen silbernen Pappröhre um die Hüften bekleidet über die Oberbaumbrücke schritt, und man wollte da nicht hingucken.
Der nackte Oberkörper eines Kunden bei Kaiser’s schien dagegen eine Mutprobe zu sein. Der Mann wirkte danach gelöst und heiter. Manchmal liegt auch ein einzelner Nackter am Landwehrkanal, entschlossen außenseiterisch und authentisch. Das kommt daher, dass sich der Nackte in den 80er-Jahren wähnt, als Nacktheit noch Mainstream war, also letztlich so ähnlich wie die Linksidentität von Exbesetzern in ihren Superbilligparkettwohnungen, die den ganzen Tag Radio Eins, Ton Steine Scherben und die Sex Pistols hören. Nackte sind meist etwas älter als Junge und träumen hinter geschlossenen Augen von früher, als es sicher auch nicht besser war. Aber man selbst rennt ja auch ständig im Sarong durch die Wohnung, um sich zu fühlen wie in Thailand am Strand.
DETLEF KUHLBRODT