piwik no script img

berliner synästhesieHigh Noon im Hinterhof

Hören

Ich lebe in relativem Glück. Seit drei Wochen bin ich krank, das genügt als Alibi, um zu Hause bleiben zu können. Jeder Tag ist Sonntag. Keiner kommt mich mehr besuchen, ich habe keine Verpflichtungen. Die Anrufe sind auch weniger geworden, außer meinem Arzt und meiner Mutter interessiert sich niemand für den Verlauf meiner Krankheit.

Es ist in letzter Zeit schon viel besser geworden, jetzt schlafe ich achtzehn Stunden am Tag. Ich könnte noch mehr schlafen, wenn mich am frühen Morgen der Eiswagen nicht wecken würde. Pünktlich um sechs Uhr gibt es ein Klacken und nebenan im Gewerbehof springt das Kühlaggregat des Eiswagens an. Dem Klacken folgt ein Surren. Genau wie bei einem Kühlschrank. Vielleicht hilft es, sich zehn Kühlschränke übereinander gestapelt oder aufgereiht vorzustellen, um in etwa das Ausmaß dieses Surrens zu erfassen.

Das Schlimmste aber ist die Monotonie. Im Gegensatz zum Kühlschrank, der gurgelt und plätschert, der erstirbt und wieder anspringt, der etwas ganz Persönliches hat, bleibt das Geräusch des Eiswagens immer gleich.

Dieses eintönige Surren wird nur unterbrochen vom Schlagen der Kirchturmuhr zur vollen und halben Stunde und von dem keifenden Alkoholikerpärchen gegenüber. „Ich halt’s nicht mehr aus“, ruft die Frau. Und der Mann schreit: „Geh doch.“ Dann werden demonstrativ laut Türen geschlagen und einer von beiden geht um die Ecke zu Rudis Imbiss und lässt sich voll laufen. Unter mir hört jemand Musik, vermutlich Radio, ein Sender mit wenig Sprachanteil.

Das muss ich mir immer wieder sagen, weil ich nicht glauben kann, dass es Menschen gibt mit einem derart durchschnittlichen Musikgeschmack. Und wie das bei Menschen häufig der Fall ist, haben sie das Bedürfnis, andere Menschen an ihrem Leben teilhaben zu lassen, und drehen den Lautstärkeregler auf. Die Nachbarn finden mich seltsam, weil ich mich an ihrem täglichen Ritual nicht beteilige. Sie versuchen, meinen Heilungsprozess mit allen Mitteln hinauszuzögern.

Solange ich mich ruhig verhalte, existiere ich praktisch nicht und bin vom Kampf ausgeschlossen. Die Methoden sind unterschiedlich. Mein Obermieter zum Beispiel hat inmitten seines Zimmers eine Diele, die jedes Mal, wenn er darübergeht, knarzt. Mehrmals in der Stunde geht er genau über diese eine Diele, wippt leicht auf und ab und prüft die Schwingung. Im Hof wirft ein kleines Kind Schaufeln und Förmchen aus dem Sandkasten. Oder es singt: Backe, backe Kuchen, der Bäcker hat gerufen. Meist ruft aber die Mutter. Sie hat eine sehr hohe, durchdringende Stimme. Hagen, komm sofort herein, sonst kommst du wieder in den Kohlenkeller. Ich habe damit angefangen, auf diese unregelmäßigen Geräusche zu warten. Mit einer gespannten Aufmerksamkeit liege ich da, unfähig etwas zu tun. Und wenn sie dann da sind, wünsche ich mir Macht, unendliche Macht, ein Gerät, das sie verstummen lässt, sie einfriert oder wegbeamt. Ich könnte keinen Mord begehen, dafür bin ich zu schwach.

Der Morgen ist jetzt fast um. Ich liege im Bett, die Augen halb geschlossen, der Eiswagen surrt, das Pärchen von gegenüber streitet sich im Treppenhaus, was die Wirkung verstärkt, der Verkehr hat zugenommen, ein gleichmäßiges Rauschen dringt über die Häuser hinweg in den Hof.

Langsam nähern wir uns dem Höhepunkt des Tages. Gleich ist es zwölf, die Kirchturmglocken werden wie wild schlagen und mein Untermieter wird seinen „Best of 1987“-Sampler einlegen. Dann klingelt es an der Tür. Ich renne hin, in freudiger Erwartung des Postboten, der mir ein großes Paket überreichen will. Ich nehme den Hörer der Gegensprechanlage ab und sage: „Hallo?“ Erst rauscht es, dann sagt eine Stimme: „Müllabfuhr, danke.“ Der neue Slogan der BSR. Enttäuscht hänge ich ein. Kurz darauf poltern im Hinterhof die Container.

Kaum liege ich wieder im Bett, klingelt das Telefon. „Ich bin nicht da, aber mein AB“, höre ich mich sagen. Jeder weiß, dass ich da bin, und trotzdem sprechen sie brav aufs Band. Erst mein Arzt: „Guten Tag, hier ist Doktor Schneider. Der Befund ist jetzt da, einige Werte sind erhöht. Und wie richtig vermutet, haben Sie Pfeiffersches Drüsenfieber. Dagegen kann man nichts machen. Gute Besserung.“ Fünf Minuten später klingelt wieder das Telefon: „Also, in Dr. Dr. Kretschmers ‚Hilf dir selbst‘ steht nichts von Pfeiffersches Drüsenfieber. Das gibt’s gar nicht. Ist bestimmt nur ’ne Grippe. Willst du nicht nach Hause kommen? Deine Mutter.“

Ich drehe mich auf die andere Seite. Ich spüre, wie das Ohropax langsam meinen Gehörgang ausfüllt. Dann höre ich nichts mehr und schlafe ein.

JAN BRANDT

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen