berlin viral: Freude am Nutzlosen, fast wie normal
Was bringt Corona an Positivem mit sich? Viel fällt einem dazu nicht ein, Pop-up-Radwege vielleicht. Aber so, wie sich ein Großteil der Straßen rund um den Boxhagener Platz wegen Corona nun an Sonntagnachmittagen präsentieren, das hat auch etwas. Sie sind dann nämlich für den Autoverkehr gesperrt, damit die anliegenden Restaurants mehr Freiflächen anbieten können. Mitten auf der Straße rumhocken und Falafel essen, ohne das Virus hätte man vielleicht nie erfahren, dass sich das ganz gut anfühlt.
Auf dem Boxhagener Platz selbst findet jetzt endlich wieder der Flohmarkt statt. Zwischen den Buden gibt es jeweils einen Sicherheitsabstand, viele rennen mit Maske herum. Ansonsten wirkt jedoch alles bei herrlichem Pfingstwetter so wie immer und teilweise herrscht regelrecht Gedrängel. „Das täuscht“, sagt Harald, der hier alte Bilderrahmen verkauft, „es sind schon viel weniger Leute unterwegs als unter normalen Umständen. Die ganzen Touristen fehlen.“ Und die Geschäfte, fügt er hinzu, seien auch schon mal besser gewesen. Aber er sei froh, endlich wieder hier sein zu dürfen: „Es ist schön, dass wir keinen Stubenarrest mehr haben.“
Ich setze mich erst einmal für eine Weile neben meinen Lieblingsplattenhändler, der natürlich auch wieder da ist, genau an derselben Stelle wie vor Corona. Er hat erstaunlicherweise gute Laune, die hat er sonst eigentlich nie. Und er verliert sogar ein paar lobende Worte über zwei seiner Kunden, weil diese sich endlich mal von ihm fachlich beraten lassen und eine Platte mit altem Blues und eine von Otis Redding nach seinen Anpreisungen auch tatsächlich mitnehmen. Er hat seinen Job wieder, seine Stammkunden, das Gelaber über Musik, das alles tut ihm gut, das ist leicht zu merken. Vom Nachbarstand bekommt er ein Stück Marmorkuchen gereicht, das gefällt ihm auch. Eine Maske trägt er nicht, dafür hat er eine Flasche Glasreiniger vor sich stehen, die er mit selbst gemischtem Desinfektionsmittel gefüllt hat. Das sei billiger als das teure Zeugs aus dem Supermarkt, wo auch nur hochprozentiger Alkohol drin sei. Gelegentlich gönne er seinen Händen einen Spritzer aus der Flasche.
Ich dreh ihm noch ein paar aussortierte Platten an, die er allesamt schlecht redet, ich bezichtige ihn der Halsabschneiderei und am Ende einigen wir uns auf ein Tauschgeschäft, mit dem wir beide zufrieden sind. Damit ist glücklicherweise ebenfalls alles beim Alten geblieben.
Dass gerade alle von diesem Virus reden, merkt man auf dem ebenfalls wieder geöffneten Flohmarkt auf dem RAW-Gelände auch nur daran, dass gleich mehrere Stände Masken zum Verkauf anbieten. Ansonsten herrscht scheinbar normales Flohmarkttreiben. Wobei hier natürlich ebenfalls die Touristen fehlen.
Ich komme ins Gespräch mit Alexandra, die neben Kinderspielzeug auch ein paar ganz gute Schallplatten anbietet. Eine von Brass Construction, die ich schon besitze, eine von Frank Zappa, die ich dann doch nicht brauche und eine Jazzplatte auf dem ECM-Label, die ich gerne hätte. Ich soll einen Preis nennen, sagt Alexandra. Ich: „Nein, das kann ich nicht.“ Sie: „Doch, bitte.“ Usw. Am Ende einigen wir uns irgendwie auf 5,50 Euro – und haben beide Spaß beim Handeln.
Um die Einnahmen gehe es ihr gar nicht so sehr, sagt Alexandra. „Ich möchte einfach wieder das Leben genießen.“ Ob sie denn keine Angst habe vor zu viel Nähe mit irgendwelchen Kunden? „Ich freue mich über die Nähe und ich sehe hier eigentlich auch niemanden, der Angst hat.“
Zu Hause fällt mir auf, dass ich die ECM-Platte doch schon besitze. War ja klar.
Am Erwerb von Nutzlosem auf dem Flohmarkt hat auch Corona nichts geändert. Andreas Hartmann
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen