beiseite: Kurzfilme von François Rossier
ZEIT DER LIEBE
In einem leeren Berliner S-Bahn-Wagen sitzt ein junger hübscher Mann und liest ein Buch. Dieser respektablen Tätigkeit wird er sich aber leider nicht lange widmen können. Es ist nämlich Frühling, und es nähert sich ihm eine junge, hübsche Frau in einem kurzen, hellblauen Rock.
In der Hand hält sie eine lila Lilie, deren zarte Blüten sie manchmal in den Mund nimmt. Sie zögert, spielt mit den Blüten der Lilie, „er liebt mich, er liebt mich nicht, er liebt mich ...“, und setzt sich schließlich direkt gegenüber unserem fleißigen Leser ...
So beginnt der Kurzfilm „Von der Verführung“, den Sülbye V. Günar 1997 im Rahmen ihres DFFB-Studiums realisierte und der im gleichen Jahr für den Deutschen Kurzfilmpreis nominiert wurde. „Von der Verführung“ – ein treffender Titel, der gut zum Frühling in der „Single-Haupstadt“ Berlin (Tip, Spiegel u. a.) passt. Und ein Film, den der in Berlin lebende Schweizer Filmemacher François Rossier vielleicht gerade deswegen auch in sein einstündiges Kurzfilmprogramm aufgenommen hat, das er am Donnerstag und Freitag im Filmkunsthaus Babylon zeigt.
Um Verführung geht es auch in Rossiers Film „Skazka“. Der 24 Minuten lange Film basiert auf einer Novelle von Vladimir Nabokov, die dieser 1926 in Berlin schrieb. Hier geht es wieder um einen jungen, hübschen Mann, der sich in eine junge und nicht weniger hübsche Kellnerin verliebt. Da der Junge aber hilflos und schüchtern ist und es sich sowieso um ein Märchen handelt, lässt er sich vom Teufel verführen, in der Hoffnung, dadurch seine Liebesfantasien verwirklichen zu können.
Dass der Teufel überall stecken kann, zeigt auch „Frauchen“ von Iwona Siekierzynska. In dieser Produktion aus der polnischen Stadt Lodz (in der übrigens Roman Polanski schon in den Fünfzigerjahren Maßstäbe in Sachen Kurzfilm setzte), verliebt sich ein dreizehnjähriges Mädchen in einen Priester. Nachdem „Frauchen“ mehrfach auf internationalen Festivals gezeigt wurde, ist der Film jetzt zum ersten Mal in Berlin zu sehen.
In François Rossiers jüngster Regiearbeit „Château de Sable“ spielt ein noch jüngeres Mädchen die Hauptrolle. An einem Strand begegnet es einem sonnenbadenden Mann, der eine Fußballübertragung in polnischer Sprache hört. Aus diesen anscheinend harmlosen Gegebenheit entwickelt Rossier eine surrealistische Atmosphäre, deren Intensität wie geschaffen ist für einen Kurzfilm.
„Jede Geschichte hat ihre Länge“, hat Rossier einmal gesagt. Seine eigene Geschichte führte ihn 1993 nach London, wo er als Abschlussfilm seines Studiums in der London International Film School „Liquid Assets“ drehte – einen radikalen und zugleich burlesken Film über kapitalistische Ausbeutung.
Obwohl Rossier zur Zeit noch in Kalkutta an einem Dokumentarfilm über den marxistischen Bürgermeister der Stadt arbeitet, wird er neben Sülbye V. Günar am Freitagabend im Babylon-Mitte anwesend sein und für Gespräche zur Verfügung stehen. Sicher erklärt er dann auch, warum er Kurzfilme so verführerisch findet.
YVES ROSSET
„François Rossier à la carte ...“: Donnerstag, 6. 4., 19 Uhr, und Freitag, 7. 4., 21 Uhr, Babylon-Mitte, Rosa-Luxemburg-Straße 30, Mitte
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