bei den tantenvon EUGEN EGNER:
Fortan lebte 341,2 bei seinen alten Tanten in deren Häuschen neben dem Umspannwerk. Ob sie wirklich seine Tanten waren, wusste er allerdings nicht immer genau. Je nach Tagesform glaubte er, er werde von den alten Damen gefangengehalten. Dann war ihm immer, als ob er seinerzeit mit dem Zug von der falschen Seite in den Bahnhof eingefahren sei, was bedeutete, dass alle Fahrgäste tot gewesen waren und er nach dem Aussteigen von denen, die sich als seine Tanten ausgaben, verhaftet worden war. So ungefähr. Er war auch nicht restlos sicher, wie viele Tanten es waren. Sie zu zählen, gelang ihm nicht, denn er konnte sie nie auseinanderhalten. Etwa drei mochten es sein, vielleicht (höchstens) eine mehr, aber gewiss keine weniger.
Seine Gegenwart im Haus der alten Damen war eine rein parasitäre, da er nicht imstande war, sich in irgendeiner Weise nützlich zu machen. 341,2 einkaufen zu schicken, war aussichtslos. Falls er tatsächlich den Weg fand, kam er ohne Ware zurück oder wenigstens mit der falschen (oder mit Zirkustieren). Hausarbeiten durfte man ihn auf keinen Fall verrichten lassen, weil das weder fürs Haus noch für die Arbeit oder ihn selbst gut gewesen wäre; selbst beim Besteckabtrocknen hätte er sich ein Bein brechen können. Überhaupt war es am besten, wenn er außer seinem Bett möglichst wenig von der Einrichtung berührte. Sein Zimmer lag vorsorglich im Erdgeschoss, damit er nicht immer auf der Treppe stürzte.
Um seinen Tanten, die so rührend für ihn sorgten, eine Freude zu machen, nahm er sich vor, recht viel für sie zu singen. Das konnte er freilich überhaupt nicht, die Tanten waren aber zum Glück schwerhörig.
Seine drei oder (höchstens) vier Tanten nahmen 341,2 überallhin mit, meist zum Friedhof. Sie mussten auf ihn Acht geben, damit er nicht versehentlich Grabsteine umwarf oder Gießkannen verbog. Begeistert zeigten sie ihm die Friedhofskapelle, im ganzen Land auch als „Arianerkirche“ bekannt. Der Innenraum war mit Fresken geschmückt, die die „Lichtritter-Armee“ von Kaiser Wilhelm II. bei ihrer Weltraum-Mission gegen einen aufständischen Planeten im Sternbild des Kepheus zeigten. So jedenfalls verstand 341,2 die Erläuterungen der alten Damen. Den allergrößten Eindruck auf ihn machten aber vier eingemauerte Holzklötze außen an der Kapelle. Stundenlang starrte er sie an und hielt sie für ein Energiesystem, genaugenommen für den wunderbaren Motor des kaiserlichen Raumkreuzers. Wenn er frühmorgens in seinem Bett erwachte, stellte er sich vor, durch den Anschluss an den „Lichtritter-Motor“ Kontrolle über seine Geistes- und Körperfunktionen zu gewinnen. Zu diesem Zweck konzentrierte er sich mit aller Kraft auf das laute Summen des Umspannwerks nebenan, das er für sein Mantra hielt, und dachte an die Holzklötze, bis sein Bettlaken qualmte. Den Moment des zuletzt vollzogenen Anschlusses empfand er als eine Art elektrischen Schlags; ihm war dann, als erwache er auf einem Fahrrad in voller Fahrt. Da er aber nicht Rad fahren konnte, erschrak er jedesmal fast zu Tode, stürzte schwer und blieb vollkommen hilflos liegen.
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