bannmeile: Von oben betrachtet, sind Plenardienstassistenten mysteriöse Eiskunstläufer
Recht auf Optimismus
Von oben sehen sie aus wie Eiskunstläufer. Jedenfalls wenn man die Augen zukneift, die Szenerie mit einem Zeitraffer beschleunigt und sich alle Geräusche wegdenkt. Dann liegt der Plenarsaal still und starr, und nur sie bewegen sich, sehr anmutig, kreuz und quer durch den Raum. Einer geheimen Choreografie folgend und in den verwegensten Momenten kleine Pirouetten drehend. Die Saaldiener im Reichstag, davon ist man in so einem Moment überzeugt, haben alle eine Ballettausbildung absolviert.
Wenn man den Zeitraffer nicht anwirft und die Herren offenen Auges verfolgt, denkt man eher an englische Spielfilme der Vierzigerjahre. Sie erscheinen dann wie sehr diskrete Menschen, die auch im Zentrum des Geschehens die hohe Kunst des Hintergrundagierens beherrschen. Zielgerichtet, doch gemessenen Schrittes bewegen sie sich auf einen der Abgeordneten zu. Nähern sich von der Seite, überreichen ein Dokument, verharren kurz in respektvollem Abstand ob gegebenenfalls sich einstellender Nachfragen, um sich nach einem entlassenden Kopfnicken des Belieferten so lautlos zu entfernen, wie sie herangeeilt waren. Selbstverständlich akkurat gekleidet. Dunkelblaues Tuch, maßgeschneidert. Die Damen im Kostüm, die Herren im Frack, alle mit goldenen Knöpfen.
Ja, sagt Herr Müller, er sehe das auf den ersten Blick, ob einer für den Saaldienst gemacht sei. Herr Müller ist Leiter der Plenar- und Ausschussdienste im Deutschen Bundestag. Sie gehören zum Bereich Plenar-, Boten-, Raum- und Hilfsdienste, dem mit 300 Angestellten größten Sachbereich im Haus. Herrn Müller, der vor anderthalb Jahren auf diesen Posten befördert wurde (weshalb er zusätzlich zu seinem Dienst auf der Fachhochschule „Verwendungsbezogener Aufstieg“ studiert) unterstehen neben dem Ausschussdienst 40 Plenardienstassistenten. So heißen Saaldiener nämlich wirklich. Es sind Männer und Frauen – auf ein ausgeglichenes Verhältnis legt Herr Müller Wert – aus dem einfachen und mittleren Beamtendienst. Benimmregeln und Rituale müssen sie nicht pauken, aber, logisch, „mit Feingefühl ans Werk gehen“.
Wie er sie einsetzt, entscheidet Herr Müller nach dem Plenumsablauf vom Ältestenrat. Es muss Assistenten im Saal geben und an den Türen, am Meldetisch, auf dem Präsidium und stets zwei bei den Stenografinnen. Bei Hammelsprüngen entscheidet er ad hoc. Herr Müller ist ein ausgesprochen freundlicher und aufgeschlossener Mensch und ein glücklicher, so darf man annehmen, auch: „Das hier ist für mich das Größte! Es gibt keinen besseren Arbeitgeber als den Deutschen Bundestag.“ Am liebsten richtet er Plenarsitzungen aus, „weil man da unheimlich viele Menschen sieht und es wunderschön ist, alle Dialekte zu hören“. Trotzdem: Stress gibt es grundsätzlich immer, sagt Herr Müller. In so einem Monat wie dem vergangenen, mit Haushaltsdebatte, Staatsakt und der Nato, geht er um zwei Uhr nachts und steht um sechs Uhr früh wieder auf der Matte. Allein auf die drängendste Frage der Journalistin antwortet er nicht. Was bloß steht in den überreichten Dokumenten? „Wir lesen sie nicht“, erklärt Herr Müller formvollendet. „Wir wissen, was drin steht, aber wir lesen sie nicht.“ Absolut jede eintreffende Nachricht werde überbracht.
Von der Besuchertribüne aus wirkt das Geschehen ungleich mysteriöser. Warum werden mal gelbe, mal rote Mappen überreicht? Weshalb bisweilen nur Zettel? Wann ist ein schwarzer Ordner an der Zeit? Und weshalb, potzblitz, muss jener Herr dem Assistenten aus dem Saal folgen? Ein Notfall? Ein Verbrechen? Kokain auf der Toilette? Eine Nachricht seiner Frau: „Olaf hat Masern, Laura das Bad geflutet, ich bin ausgewandert, komm sofort nach Hause“? Oder wird der Mann ganz einfach ausgewechselt?
Ohne Aufklärung muss weiter spekuliert werden. Vielleicht werden ja auch kleine Liebesbriefe durch den Raum getragen. Von der PDS zur CDU z.B.: „Sehr verehrte Kollegin, seit einer Legislaturperiode sehe ich Sie dort in der zweiten Reihe ihre Beine mit unbeschreiblicher Eleganz übereinander schlagen und kenne nicht einmal Ihren Namen. Erlauben Sie mir, Sie nach der Rentendebatte auf einen Kaffee einzuladen?“ Innerhalb des Saals, hat Herr Müller gesagt, würden keine Nachrichten überbracht. Und wenn schon. Der Kanzler spricht gerade vom Recht auf Optimismus. Auf der Besuchertribüne darf man die Augen zukneifen. CHRISTIANE KÜHL
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