ausstellung : Das Ende vom Mythos Kindheit
In der Kunst sind Kinder ein zeitloses Thema, dabei leben sie in der Realität keineswegs außerhalb der Zeit. In der Kindheit ticken biologische und kulturelle Uhren besonders laut, doch wenn die Stimme bricht oder der Abschlussball droht, dann ist der Anfang des Lebens zu Ende. Aber nicht nur die Kindheit hat ihre Zeit, sondern auch ihr Mythos: Die Idee vom paradiesischen Urzustand geisterte lange durch die Kulturgeschichte, erst heute scheint die Zeit für solche Märchen abgelaufen.
Die sich ändernden Konzepte von Kindheit im Spiegel der Fotografie dokumentiert zur Zeit eine Ausstellung in der Galerie Priska Pasquer. Mit Bildern aus dem 19. Jahrhundert geht es los – Kinder als kleine Erwachsene in strengen Fotografierposen. Die Kunstfotografie der Jahrhundertwende setzt den Mythos vom unschuldigen Wesen dann bewusst ins Bild: Die Kinderbilder von Heinrich Kühn oder Hugo Erfurth sollen Gefühle wecken, weichzeichnende Edeldruckverfahren dienen als Mittel zum Zweck. In den folgenden Jahrzehnten probieren die Künstler neue fotografische Perspektiven aus, doch das Kindheitsmuster in den Köpfen bleibt: Egal ob Paul Citroens lächelnde Dreißiger-Jahre-Kinder oder August Sanders Abbildungen der lieben Kleinen beim Brettspiel – Bild um Bild werden hier Bullerbü-Phantasien beschworen, wird der Nachwuchs als emotionaler Fluchtpunkt instrumentalisiert.
Erst im letzten Raum beenden zeitgenössische Fotografen die süßliche Kinderei: Achim Lippoth dokumentiert die Ausbildung chinesischer Kinderturner, zeigt Zehnjährige im Spagat. Christian Boltanskis Installation „Kinder suchen ihre Eltern“ integriert Archivkartons und Suchkindbilder aus der Nachkriegszeit. Und bei Rudolf Bonvie ist endgültig Schluss mit dem schönen Schein: Seine die Sensationspresse zitierende Arbeit „So sehen heute Mörder aus“ von 1993 bezieht sich auf Kinder, die andere Kinder töten – vor Littleton und Erfurt. Und so wird eines klar auf diesem lohnenswerten fotografischen Kindergeburtstag: Als Botschafter eines verlorenen Paradieses taugen „edle Kinder“ genauso wenig wie „edle Wilde“. Holger Möhlmann
„Kinder“: Galerie Priska Pasquer, Goebenstr. 3, Tel. 952 63 73, Mi-Fr 10-18 Uhr, bis 30. April www.priskapasquer.de