ausgehen und rumstehen : Hallo, wir haben Pilze
Ich sitze auf einer Parkbank im Tiergarten, schmeiße den Enten Brotkrumen zu und denke an nichts. Noch scheint die Sonne auf uns herab. Noch scheinen mir Entertainment und Fun mit dieser Stadt verknüpft. Es ist West-Tag, und später umfahren wir die Rentner auf dem Radweg von beiden Seiten wie ein wildes Gewässer, das den Berg umfließt. Sagt Jan. In einer Hotellounge ist ein Turnschuhtreffen. Es trifft sich die Szene aus Sammlern, das sind in Deutschland etwa 500, zu einer Art Messe, wo sie ihre alten, bunten Schuhe angucken, von denen sie alle Geschichten kennen.
Turnschuhgeschichten interessieren nur Jungs, Mädchen sind keine gekommen. Sie tragen Baggys, T-Shirts und seltenes Schuhwerk und sprechen sich an mit „Langer“ und „Dicker“. Am nächsten Tag campen viele von ihnen vor der Solebox, dem Sneaker-Laden an der Nürnberger Straße, denn dort präsentieren die Besitzer einen Schuh, den sie zusammen mit der Firma Asics entworfen haben. Richtig wach werde ich aber erst wieder, als wir schon in der Budapester-Schuhe-Boutique sind und mein Begleiter sich im Eiltempo Prada-Schläppchen kauft, die viel günstiger sind als die Turnschuhe auf der Messe.
Im Zillehof, der charmanten Institution in Sachen Dinge und Trödel, schenkt mir die Verkäuferin eine „Kreissäge“. Dass sind diese Strohhüte, die sich durch die flache, kurze, stahlgerade umlaufende Krempe auszeichnen und von denen ich in einer Zeitung gelesen habe, die seien momentan le dernier cri. Ich muss daran denken, dass man im Römischen Reich den Hut zum Symbol der Freiheit erhob, weshalb freigelassene Sklaven bei ihrer Freilassung einen Hut erhielten. Selbst komme ich mir vor wie ein Gondoliere und träume von Thomas Mann, während die gutherzige Dame erzählt, dass sie Bahnchef Mehdorn verklagt hat. Der will den Zillehof nach 35 Jahren von seinem Standort unter eine andere S-Bahn-Brücke verdrängen, wo es bei Regen von der Decke tropft.
In der Galerie Nagel wird abends ein 400 Seiten starkes Buch zum Phänomen Madonna präsentiert. Bei all den schlauen PopschreiberInnen und KünstlerInnen, die mitwirkten, sollte eigentlich alles in Ordnung sein. Meine Bekannte meint allerdings, sie empfinde all das als eine Mischung aus Sozialwissenschaften und Poesiealbum. Ich wundere mich, dass sie so schlecht über die Grether Sisters spricht, die das Buch produzierten, aber es ist mir auch egal. In der temporären Galerie „Forgotten Bar Project“ in Neukölln wiederum haben die Leute hanebüchene Erwartungen an einen Galeriebesuch. Sie sagen Sachen wie „Irgendwie springt der Funke nicht über“. Auch die Drogen sind hier ganz andere als in Mitte. Jemand hinter mir geht an sein Telefon: „Hallo. Wir haben Pilze.“
Einige Ecken weiter, an einem Ende des Ostens, beim Ernst-Thälmann-Denkmal gibt es ein Technofestival. Umsonst und draußen. Ich sehe drei im Regen tanzende Menschen, und für einen Moment schiebt sich ein Filmbild des am Freitag in einem Künstlerstudio in Kreuzberg gesehenen Films „Holy Ghost People“ auf meine Netzhaut. Es geht dabei um Religiöse, die sich regelmäßig einbilden, der Heilige Geist fahre in sie, während sie in einem obskuren Gottesdienst eine Art Rave zelebrieren und mit schäumendem Mund vor sich hin zucken.
Die Sonntagspläne werden derweil weggeschwemmt vom großen Regen. Das leise, unbarmherzige und monotone Klöppeln kleiner, weicher Regentropfen, die sich in einen feinen Sprühfilm verwandeln, bevor sie sich auf das Pflaster legen, von dem ich eigentlich die Geschichten des Wochenendes auflesen soll. Stattdessen wird es kalt. Und weil die Kastanien die Motten haben, fallen ihre Blätter schon im August von den Bäumen. Der Herbst visualisiert sich so etwas früher, als er tatsächlich da ist. Ich ziehe zum ersten Mal in diesem Jahr meine Winterjacke an und gehe essen mit dem Konzeptkünstler. Er erklärt mir die Geheimnisse der ABC, dieser Kunstmesse, die dem Art Forum in einer Woche die Show, die Zuschauer und die Millionen stehlen wird. Er glaubt auch, der Krieg komme immer näher, und findet die Vorstellung von bombenwerfenden Hubschraubern über Prenzlauer Berg gar nicht mehr abwegig. Wir trinken viel zu viel warmen Sake. Ich mag ihm nicht widersprechen, denn es war das langweiligste Wochenende des Jahres. TIMO FELDHAUS