ausgehen und rumstehen : Musik wird überschätzt: Tiere, Sternschnuppen, Schweiß
Meine Wohnung war heiß und brütend, es lag wohl an der Unordentlichkeit und der Langeweile, die mich bedrückten. Ich versuchte zu arbeiten, das funktionierte selbstverständlich nicht. Des Abends kam ein Anruf und der erlösende Aufruf, in die Bar zu kommen.
Die meisten Stunden dieser Nacht verbrachte ich dann im Austausch über die Tierdramen der letzten Wochen: „Chupita, der geile Esel“. Dann: „NDR-Reporterin tritt dieses süße Eichhörnchen tot: Da lag das niedliche Tier! Blutig, mit gebrochenem Genick!“ Und dann noch dieses: „ ‚Marienhof‘-Star überfahren, als sie einen Igel retten wollte. Ihre Tierliebe brachte ihr den Tod“. Beträchtliche Bestürzung auf unserer Seite.
Ferner beguckten wir interessiert die Popo-Erotik-Anzeigen in der Village Voice, die herumlag: nicht unähnlich den ebenfalls deliziös angerichteten Fleischplatten in den Werbeprospekten der Großsupermärkte. Mein Schwarm kam zur Tür rein, er schien äußerst betrunken. Dann verschwand er aber auch schon wieder.
Später fand sich die ganze Freundesbande auf dem Dach eines Hauses in der Danziger Straße ein. Wir legten uns auf den Bauch an die Kante und blickten in die stickige Straßenschlucht. Ich sah etwas am Himmel blitzen, das ich nicht verstand, es war nicht einzuordnen. Ich dachte an ein abstürzendes, in Flammen aufgegangenes Flugzeug. Max schrie auf: „Eine Sternschnuppe! Zum Glück fehlt nicht viel!“
Die Nacht wurde zum Morgen, und der Morgen zum helllichten Tag. Ich überquerte die aufgerissene, nervöse Eberswalder Straße zu den Bahngleisen. Heimfahrt mit der Partylinie M10: überall potenzielle Pärchen, alle grob, tumb und sexualisiert. Das verstimmte mich.
Der nächste Morgen war kaum zu überstehen, die Sonne stach mir ins Gemüt, mir war schlecht. Den Tag über rollte ich träge im Bett umher und roch an Kleidungsstücken, die nicht mir gehören. Am Abend ging es wieder gut. Ich wollte mich unbedingt hinauswagen.
Der gute Grund: die Gruppe Achtung! Liebeautomat im Kinzo. Dorthin, so mein Urteil, gehen gerne junge Abiturienten und Abiturientinnen. Passt auch gut zu dem Kachelboden des Partykellers. Doch das sollte dennoch nicht den Genuss an Achtung! Liebeautomat verderben: eine Hand voll Engländer und Max Krefeld von hier. Sie sind jung, übermütig, schön anzusehen und haben den Beat und die Mädchen auf ihrer Seite.
Es knallte, und kurz dachte ich gerührt: Hallo, Neunzigerjahre. Besagter Max Krefeld, das muss erwähnt werden, hat in seinem Kopf sehr viel Musikplunder und macht deswegen herrlich verhedderte Musik. Er liebt das große Abc, also heißt so sein Album, welches man wie Buchstabensuppe oder Russisch Brot konsumieren kann. Jedes kleine Stück ein Buchstabe des Alphabets. Jedes geformte Wort ein neues Lied. Und irgendwo ein Satz: „Wann hört es auf? Musik wird völlig überschätzt.“ Wie schlau und elegant.
Es musste weitergehen, also sprangen wir in den Zug nach Pankow. Rio im Freien und in engen Räumen. Maximilian Hecker legte Kuschel- und Selbstmordmusik auf, Verzückung beim Pärchentanz und Körperreiben. Nach einigen Stunden Schlaf waren überall, an Oberschenkel, Hüfte, Backe, verwischte Tintenflecken zu finden: Schweißige „I Love Rio“-Abdrücke des Stempels überall.
Sonntagabend noch in die Volksbühne: Antony & the Johnsons und CocoRosie. Mir lief heimlich eine Träne über die Wange, und die Hände hatten auch keine Kontrolle mehr. Da blieb nichts mehr übrig, das zu wünschen wäre, einfach nichts mehr.
Der Straßenverkehr auf dem Weg nach Hause war dann derart wirklich, dass wir nur knapp dem Tod durch Überfahren entkamen. JANE FRÄNZEL