auf augenhöhe : Die Frau mit den Plastiktüten hat einen Informationsvorsprung
„Das Internet wird abgeschaltet!“
Die Frau mit den Plastiktüten ist wieder gekommen. Die Tür geht auf und sie steht da, die Tüten schlagen gegen die Beine. Die alte Frau wohnt im Hinterhaus, mit einem schlecht ziehenden Ofen und einem Kassettenrekorder voller Don-Kosaken-Musik. In Friedrichshain ist es nass, kalt und dunkel. Die Frau hätte nicht kommen müssen, sie hätte nicht ihre wattierte Jacke überziehen müssen, die weiße Mütze, über den Hof und raus. Sie hat es trotzdem getan. Weil es sich einfach gehört, dass man den anderen einen Wink gibt, wenn man einen Informationsvorsprung hat. Weil es richtig ist, Signale auszusenden, wenn man von etwas weiß, das die moderne Welt vermutlich zum Einsturz bringt.
Die Frau will die Nachbarn mit den Computern warnen. „Hört zu!“, sagt sie. Mit Anwälten hat sie gesprochen, es in geheimen Dokumenten gelesen und aus dem Telefon erfahren: Die Lage ist ernst. „Das Internet wird abgeschaltet“, flüstert sie in den Raum. „Wahrscheinlich schon nächstes Jahr.“ Schnell zieht sie den Kopf ein, dreht sich zum Gehen um. Jetzt ist es raus, sie muss weiter.
Der Grund für das Ende des Internets liegt in den vielen Unwahrheiten, die dort verbreitet werden Tag für Tag. Schon lange regt sich die Frau mit den Plastiktüten darüber auf. Nach Amerika hat sie deswegen Briefe geschrieben und an den Internationalen Gerichtshof. Jetzt zeigen die Bemühungen endlich Wirkung. Die Richter in Amerika werden handeln, sagt die Frau beim Hinausgehen. Am Telefon haben sie es ihr versprochen. „Alle Computer weltweit werden abgestellt“, sagt die Frau. Sie hebt die Plastiktüten, sie lacht und winkt.
Friedrichshain ist nicht Silicon Valley. Die Frau mit den Tüten ist nicht Nelson Mandela und auch nicht die Menschenrechtskommission. Aber sie weiß, was richtig ist im Leben und was falsch. Und dass ein über Bildschirme flimmerndes Netzwerk, das immerzu Unfug ausspuckt und von der Russenmafia kontrolliert wird, nicht vernünftig sein kann. „Macht die Computer aus und geht schlafen“, ruft sie ihren Nachbarn zu. Die Stimme ist schon draußen im Flur. Globale digitale Kommunikation hat keine Zukunft. Jeder sollte das wissen. Irgendwann im nächsten Jahr wird das Internet abgeschaltet, man kann nichts tun. Aber es soll wenigstens niemand behaupten, er sei nicht gewarnt worden. KIRSTEN KÜPPERS