american pie : Die Oakland Raiders sind alt geworden
Zernagt vom Zahn der Zeit
Gerade mal drei Wochen alt ist die neue Saison der National Football League (NFL) – und die reichste Profiliga der Welt demonstriert schon wieder verlässlich ihre Unzuverlässigkeit: Die Minnesota Vikings um das lustlose Enfant terrible Randy Moss, von den meisten Experten als Kellerkinder eingestuft, sind bislang ebenso ungeschlagen wie die Carolina Panthers, von denen das auch niemand erwartet hätte. Währenddessen sind mit den St. Louis Rams und den Philadelphia Eagles zwei Titelfavoriten noch ohne Sieg. Die Erklärung für diese Unberechenbarkeit: Die NFL ist die einzige US-Liga, in der das Salary-Cap-Prinzip, die Deckelung der Gehälter für jedes Team, tatsächlich funktioniert. Die Folge: nahezu gleiche Chancen für alle und kaum noch Leistungsunterschiede zwischen den Mannschaften. Ein paar Verletzungen oder ein wenig Glück haben oft dramatische Auswirkungen.
Die größte Überraschung in dieser noch jungen Saison ist allerdings das Auftreten der Oakland Raiders. Die gingen im letzten Januar noch als Favorit in die Super Bowl, wo sie allerdings herzlich chancenlos waren gegen die Tampa Bay Buccaneers. Keine neun Monate später macht der Vize-Meister mit einer nahezu unveränderten Mannschaft einen erbärmlichen Eindruck. Im prestigeträchtigen, weltweit live übertragenen Montag-Abend-Spiel gab es ein 10:31-Debakel gegen die Denver-Broncos. „Das war peinlich“, schämte sich Lincoln Kennedy, einer der schwergewichtigen Jungs aus der Offensive Line, „und dann gucken auch noch mehr als 60 Millionen Menschen zu.“
Die sahen, dass Lincoln und seine Kollegen Schwierigkeiten hatten, ihrer Arbeitsplatzbeschreibung nachzukommen. Vor allem die Offensive Line, dafür zuständig, dem Quarterback genug Zeit zum Werfen seiner Pässe einzuräumen, erwies sich als löchrig. Raiders-Quarterback Rich Gannon wurde von der Verteidigung der Broncos fünfmal zu Boden gerissen, bevor er den Ball loswerden konnte.
Die Raiders scheint nun endlich das Schicksal zu ereilen, das ihnen schon seit Jahren prophezeit wird: Das Alter holt ein Team ein, dessen Schlüsselpositionen nahezu ausschließlich mit überaus erfahrenen Spielern besetzt sind. Gannon (37) bedient mit seinen Würfen vor allem die Wide Receiver Jerry Rice (40) und Tim Brown (37). In den Reihen des Gegners sollen Verteidiger wie Bill Romanowski (37) oder Rod Woodson (38) für Unruhe sorgen. All diese Spieler sind aussichtsreiche Kandidaten für eine Aufnahme in die Hall of Fame, haben ihren Leistungszenit allerdings schon vor Jahren hinter sich gelassen.
In den letzten Jahren konnten die Raiders ihre athletischen Defizite noch mit Erfahrung ausgleichen. Das Offensivspiel wurde mit vielen schnellen, kurzen Pässen zugeschnitten auf die mittlerweile arg langsamen, aber dafür cleveren Rice und Brown, denen so ein vierter Frühling beschert wurde. So gut geölt lief die Raiders-Maschine, dass Gannon in der vergangenen Saison einen neuen NFL-Rekord aufstellte, als er einmal 21 Pässe in Folge an den Mann brachte. Am Ende der Saison hatte man statistisch gesehen sogar den erfolgreichsten Angriff der Liga.
Geblieben von der alten Herrlichkeit ist nur das Alter. Jerry Rice, der unumstritten beste Passempfänger in der Geschichte der NFL, ließ gegen die Broncos kurz vor Schluss wie ein zitteriger Opa einen Ball fallen, der zum Touch-down geführt hätte. Insgesamt fing Rice nur vier Pässe, Kollege Brown gar nur einen einzigen. Offensive Lineman Frank Middleton verzweifelt: „Es kann doch nicht sein, dass in nicht mal einem Jahr aus Zucker Scheiße wird.“
Den Raiders wurde auch der eigene Erfolg zum Verhängnis: Die gegnerischen Verteidigungsstrategen haben ihr Angriffssystem mittlerweile ausgiebig studiert, um das Geheimnis des Erfolgs aufzuspüren. Nach dem Spiel stellte Chefcoach Bill Callahan fest, dass die Broncos-Verteidiger sich manchen Spielzug seiner Offensive bereits zuriefen, bevor der überhaupt in Gang gesetzt war: „Die anderen haben uns durchschaut.“
So konnten die Raiders bislang nur einen Sieg einfahren, und der kam ausgerechnet gegen die schon seit Jahrzehnten erbärmlichen Cincinnati Bengals zustande. Die und die ebenfalls weiterhin standhaft schlechten Arizona Cardinals scheinen die einzigen Teams in der NFL zu sein, die noch immer nicht kapiert haben, dass in dieser Liga eigentlich alles möglich ist. THOMAS WINKLER