american pie : Aufschrei der Entrüstung
Ist die Eishockey-Liga NHL ein Hort des Dopings? Das behauptet jedenfalls Wada-Chef Dick Pound
Turin, olympisches Eishockey-Turnier. Halbfinale USA–Kanada. Kurz vor Ende des zweiten Drittels, die Kanadier liegen knapp in Führung, stürmt eine Einheit der Carabinieri die Eisfläche des Palasport Olimpico und legt die komplette zweite Angriffsreihe der Amerikaner, drei kanadische Verteidiger und mehrere Betreuer beider Mannschaften in Handschellen. Wegen Besitz, Verbreitung und Benutzung von Doping-Präparaten wandern die verhafteten Cracks in den örtlichen Knast.
Das Szenario ist nicht ganz so absurd, wie es klingen mag. Zum einen hat Italien seine Gesetzgebung in den letzten Jahren so verschärft, dass Dopingsündern nun Freiheitsstrafen von drei Monaten bis zu drei Jahren drohen. Zum anderen hat Dick Pound jüngst die Vermutung geäußert, ein Drittel aller Profis der National Hockey League (NHL) wäre gedopt. Sollte der Chef der internationalen Doping-Behörde Wada Recht behalten, könnte in Turin das Unterzahlspiel an der Tagesordnung sein.
Pounds Äußerungen waren die Folge eines Gesprächs mit NHL-Boss Gary Bettman, der ihm unter vier Augen mitgeteilt habe, dass es in seiner Liga „kein Problem mit Doping“ gäbe. Im nordamerikanischen Eishockey brach prompt ein Sturm der Entrüstung los. „Die Aussagen von Herrn Pound entbehren jeglicher Grundlage“, ließ der stellvertretende NHL-Geschäftsführer Bill Daly ganz offiziell verlauten und dass er es „sehr Besorgnis erregend“ finde, dass sich Pound zu einem Thema äußere, „von dem er absolut keine Ahnung hat“. Todd Bertuzzim, Star der Vancouver Canucks, lud Pound in die Umkleidekabine ein. Dort könne er angesichts nackter Spieler überprüfen, wie wenig dran sei an seinen Anschuldigungen.
„Unfair“ behandelt fühlte sich Jarome Iginla, der Kapitän der Calgary Flames. Matthias Ohlund, Verteidiger der Canucks, fand Pounds Schätzung „lächerlich“, denn schließlich spiele er schon acht Jahre in der NHL und hätte von Doping in dieser Zeit noch nichts mitbekommen. Flames-Stürmer Tony Amonte immerhin gab zu, dass „es definitiv Spieler gibt, die Anabolika und anderes Zeugs genommen haben“, schloss dann aber mit der seltsamen Folgerung, dass leistungssteigernde Mittel „einem auf dem Eis nicht weiterhelfen“. Ansonsten aber steckt man den Kopf in den Sand: „Wer ist denn bitte schön Dick Pound?“ fragte Bertuzzi. Und auf der Website der Liga sucht man nach dem Namen „Dick Pound“ vergeblich.
Die Politik der NHL ist simpel und erinnert an die Haltung, die der Deutsche Fußball-Bund lange Jahre vertrat: Doping, das ist ein Problem der anderen. Zum Beweis führt man an, dass in den vergangenen 15 Jahren bei internationalen Veranstaltungen wie Olympischen Winterspielen und Weltmeisterschaften nur drei NHL-Spieler positiv aufgefallen seien. Bei einem Testlauf in der Saison 2004/2005 seien zudem alle 700 NHL-Profis getestet und weniger als ein Prozent erwischt worden.
Don Cherry, Moderator der einflussreichen TV-Sendung „Hockey Night in Canada“, schlug vor, die NHL solle Pound verklagen: „Bringt den Kerl vor Gericht! Er soll es beweisen!“ Tasächlich haben sich Pound, der selbst aus der Eishockey-Hochburg Montreal stammt, und die Wada in der Auseinandersetzung bislang nicht mit Ruhm bekleckert. Nicht nur hat der gelernte Jurist Pound bislang keinerlei Daten oder Untersuchungen vorgelegt, die seine Einschätzung stützen könnten, seine Organisation ging auch auf Tauchstation und gibt keine offiziellen Kommentare ab zu den Äußerungen ihres Chefs.
Demnächst könnte sich herausstellen, ob Pounds Anschuldigungen stimmen oder Don Cherry Recht hat mit seiner Behauptung: „Unser Hockey ist der sauberste Sport der Welt.“ Denn in der NHL treten demnächst neue Bestimmungen in Kraft, die im Vergleich zu anderen amerikanischen Profi-Ligen, vor allem denen der Major League Baseball, sehr viel strenger sind. Ab Mitte Januar werden alle Spieler während einer Saison mindestens zwei Mal unangekündigt getestet. Ein erstes Doping-Vergehen wird mit einer Sperre von zwanzig Spielen bestraft, ein zweites mit sechzig Spielen. Nach dem dritten Verstoß wird der Spieler lebenslang gesperrt. Diese Regularien gelten allerdings nur für Profis, die nicht in italienischen Strafvollzugsanstalten einsitzen.
THOMAS WINKLER