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Archiv-Artikel

Zynische und andere Erstarrungen

Nach Gentest einschläfern. Manchmal geht es aber auch noch deutlich schneller …

„Bald geht es mit dir zu Ende. Ich hab in deine Gendatei gelinst. In drei Wochen biste hops!“

Unsere Stationsschwester Christine war eine eigenartige Marke. Schon morgens wurde ich von ihr mit Fragen geweckt wie: „Na alter Einnässer, haste wieder ins Bett geschifft?“ Dabei ist mir Inkontinenz völlig fremd. Nicht nur einmal wurde mir das Frühstück mit den Worten „Hier, was zum Schlabbern. Ist ja bei dir eh für die Katz!“ auf den Nachttisch geknallt. Oder das Mittagessen: „Dein Brei, Alter, extra fein, sodass du ihn durch deine Zahnlücken schlürfen kannst.“ Eine krude und, wie ich fand, wenig angebrachte Sprache. Außerdem hatte sie mit Kolleginnen kaum Kontakt, aber ich dachte, so ist das eben im Klinikalltag von 2035. Also mümmelte ich geduldig über meinem dreigeteilten Menütablett mit Suppenvertiefung. Aber gab es eine andere Wahl? Die Hüfte schmerzte, ich war bettlägerig und so auf Christine angewiesen.

Ein künstliches Hüftgelenk wäre nötig, doch das ist nicht einfach. Schließlich habe ich 80 Jahre auf meinem krummen Buckel, und so stelle ich mir wie jedes kleine Arschloch die Frage, ob sich das bei so einem alten Sack wie mir noch lohnt. Selbstverständlich ergeht zuvor ein Gentest, denn dort steht geschrieben, wie lange man noch hat. Bis zu dessen Auswertung bin ich nicht einmal Patient, sondern Kostenfaktor – und mit jedem weiteren Tag stelle ich mir vor, wie das schlaffe Staatssäckel noch ein wenig mehr in sich zusammensinkt. Schon im Herbst 2010 wurde von dem damaligen Minister für Gesundheits- und Altenwesen Philipp Mißfelder der Gen-TÜV ab 70 durchgesetzt. So wartete ich hier schon etliche Tage auf meine Analyse und die eventuelle Einschläferung. Erst kürzlich habe ich wieder von Patiententötungen in einer Klinik gehört. Ja, mit der Zeit wurde ich zum Zyniker.

Als Christine gestern Nacht an mein Bett schlich, flüsterte sie mir schonungslos ins Ohr: „Bald geht es mit dir zu Ende. Ich hab in deine Gendatei gelinst. Noch drei Wochen, dann biste hops. Nimm jetzt dein Schlafmittel.“ Ich erstarrte vor Schreck und konnte gar nicht verstehen, warum es mir so schlecht gehen soll. Bis auf die Hüfte fühlte ich mich eher rüstig. Noch drei Wochen! Können Gene lügen? Ich schluckte die Pille, doch der Schlaf wollte sich nur mühsam einstellen. Als ich endlich wegdämmerte, nahm ich gerade noch wahr, wie Christine, mit einer Spritze bewaffnet, auf mich zukam. Es pikste, dann wurde es dunkel.

Ich erwachte zögerlich, als Gerd, mein Zimmergenosse, meine Wangen tätschelte, mir dabei seine graue Schläfe vor die Augen hielt und rief: „Herr Kommissar, er wacht auf! Ich sach ma, wäre ich nicht sofort da gewesen, wäre der Kumpel tot.“ Jetzt bemerkte ich die Polizeibeamten und Professor Hubert Bienlein von der Nachbarstation. Der Psychiater meinte lapidar, ich hätte Glück gehabt, denn die Schwester war im Begriff, mich zu Tode zu spritzen – doch Gerd habe dies bemerkt und sofort heftig Alarm geschlagen.

Christine war bereits festgenommen und saß in U-Haft. Offenbar litt sie an einem Kindheitstrauma, das in diesen aggressiven Fantasien endete. Kostendämpfung oder Angst um die eigene Rente waren also nicht ihre Motive für die Serientötung. Diese psychisch kranken Täter seien auch keine Todesengel, dozierte Professor Bienlein. „Mitleid als Motiv scheidet aus, denn Sie befanden sich ja nicht in Ihrer Sterbephase“, erklärte er mir. Wegen der Gabe von unverordneten Medikamenten und der verrohten Sprache hätte ich hellhörig werden müssen, ebenso wegen der Prognose meines Todeszeitpunkts. Bingo! – schoss es mir durch den Kopf. Die Zeit zwischen der ersten Tötung und der Entdeckung ihrer Taten erstreckt sich leider über Jahre, so der Mediziner. Ich wäre Christines Nummer 31 gewesen. Immerhin.

Wenn Patienten eine „zynische Erstarrung“ des Pflegepersonals gegen ihren Beruf bemerkten, ist Wachsamkeit vonnöten, schloss er seine Ausführungen ab. Gerd stimmte sofort zu: „Das kenn ich noch aus der Zeit, als die SPD regierte. Ein Vorschlag für ein Reförmchen, schon war die Opposition zynisch erstarrt. Da hätt ich schon mal gern den Merz oder die Merkel …, im Übrigen, mein Antrag auf Prothese wurde abgelehnt, basta. Haben wir davon.“

Der Oberarzt bringt endlich die Ergebnisse meiner Genbefragung: Ich bekomme kein Hüftgelenk. Nicht bei meiner Restlaufzeit von fünf Jahren. Und die Schmerzen im Gesäßbereich? Dagegen gibt’s Cannabis vom Balkon. Ist billiger – und seit zwei Jahren legal. THOMAS VILGIS