Zwischen den Rillen: Vom Liebesleben in der Großstadt
■ Alltag und Tagtraum in der künstlichen R 'n' B-Welt: TLC und Total
Als TLC Anfang der Neunziger das erste Mal auftauchten, traten sie die Geschichte eines ganzen Genres in die Tonne. Denn TLC waren mehr als nur die Anfangsbuchstaben der drei Sängerinnen T-Boz, Left-Eye und Chilli. TLC war synonym für das Klischee, dem bis dato alle Frauentrios im Soul gefolgt waren: Tender, Loving, Care. Und damit war jetzt Schluß. TLC waren eine der ersten Frauenvocalgroups, die die Brücke zum HipHop schlugen. Musikalisch waren sie nah am Soul, aber in ihrer Selbstdarstellung und in ihren Inhalten gingen sie eher als HipHop durch, und das war Anfang der Neunziger neu und aufregend. Nicht nur, daß sie sich Decknamen gaben, als wären sie eine HipHop-Gruppe, ihr ganzes Posing war tough und streetwise. Sie waren frech, selbstbewußt und dirty. Das Konzept war relativ einfach: Die eine rappte, die andere sang Lead, die dritte besorgte den restlichen Gesang. Soweit war das noch im Bereich des Üblichen, aber diese Pose war vorher so noch nicht dagewesen.
Schon ihre Debütplatte verkaufte zwei Millionen Exemplare. Doch spätestens mit dem Album „CrazySexyCool“ waren sie so dermaßen erfolgreich, daß sie sich aus ihren Platinplatten wahrscheinlich ein Schloß bauen könnten, wenn sie die Platinplatten nicht zum Pfandleiher hätten tragen müssen. „CrazySexyCool“ fand allein in den USA über vier Millionen Käufer und war damit die erfolgreichste Platte einer Frauengruppe ever. Und TLC verhielten sich auch imagegerecht: Left-Eye brannte ihrem Boyfriend in einem Anfall von Eifersucht seine 861.000-Dollar-Villa nieder und haute einige der umliegenden Autos zu Schrott. Das brachte ihr zwar eine fünfjahrige Bewährungsstrafe ein, aber kurbelte den Verkauf von „CrazySexyCool“ erst richtig an. So wilden Fegern kaufte man nicht nur ihre Gefühle ab, sondern auch ihre Platten. Danach blieb wenig übrig außer Gerüchten. TLC seien bankrott, hieß es, und T-Boz sei an der Sichelzellenanämie erkrankt. Doch nun, vier Jahre später, sind sie wieder da und tun so, als sei nichts gewesen. „Fanmail“ heißt die Platte, und alle Fans, die TLC jemals einen Brief geschrieben haben, sind namentlich im Booklet aufgeführt. Ein ziemlich souveräner Auftritt. Allein: Die Platte hört sich auch an, als sei nichts passiert. Der große Wurf ist das nicht. Nicht daß die Platte schlecht wäre. Nur sind TLC keinen Schritt mehr voraus. Die ganze Platte durchzieht der routinierte Sound von Produzent Babyface, und dazu singen TLC, wie sie auch auf den vorherigen Platten schon gesungen haben. Das ist immer noch schön, etwa wenn die drei herzzerreißend über Liebeskummer klagen, doch das war's.
Wenn also eine R 'n' B-Gruppe in dieser Saison den Standard setzt, dann sind das nicht TLC, sondern Total. Schon als Puff Daddy vor vier Jahren die drei Frauen in sein aufstrebendes Bad-Boy-Imperium holte, sollten sie eigentlich seine Antwort auf TLC werden. Das haben sie nun geschafft. „Kima, Keisha & Pam“ stellt so ziemlich alles in den Schatten, was sich momentan im R 'n' B zum Singen zusammentut: Kima, Keisha und Pam sind crazy, sexy und vor allem cool. Total sind „real“, ohne auf Street-Credibility zählen zu müssen. Sie sind glamourös, ohne ständig die Namen ihrer Klamottenmarke zu erwähnen. Total sind, wie ihre Produzentin Missy Elliott in einem Stück ins Mikro hustet, „the best you heard so far“. Hier geht es nicht um den entrückten Kitsch wie bei R. Kelly oder Dru Hill, sondern um ganz reale Dinge. Begehren, Sex, Gefühle und reale Probleme, kurz: das Liebesleben in der Großstadt.
Du liegst mit jemanden im Bett, und seine Freundin ruft über ihr Handy aus dem Vorgarten an. Du wunderst dich, warum die Freundin deiner Affäre sich nicht mit dir unterhalten will, weil man doch nicht nur die Interessen teilt, sondern auch den Mann und sich also eigentlich eine Menge zu sagen hätte. Du hast keine Lust auf Sex mit deinem Freund, das heißt aber nicht, daß du ihn nicht liebst. Dein Freund ist zu schnell und selbstzerstörerisch drauf. Du bist so scharf auf jemanden, daß er dich durch einen Rausch nach dem anderen jagt. Du masturbierst, und jemand rüttelt an der Tür. So geht das durch alle Stücke.
Hier wird nicht der Mensch noch einmal zusammengebaut und ihm Gefühle und eine Einheit zugeschrieben, die er längst verloren haben könnte – ganz banal wird hier Alltag reflektiert. Doch das ist dann gleichzeitig wieder so aufgeladen, das Spezielle so sehr zum Allgemeinen erhoben, daß man staunend vor Kima, Keisha & Pam steht. Mitten im R 'n' B, dem künstlichsten aller Paradiese der Popindustrie, paßt auf einmal alles zusammen: der Alltag und der Tagtraum.
Und diese Sexyness wird durch die Produktion noch unterstrichen. Missy Elliott nimmt sich das Beste aus HipHop und R 'n' B, läßt es rollen und lacht ab und zu dreckig aus dem Hintergrund. Was sich schon seit einiger Zeit angekündigt hat, ist hier vollzogen: Missy Elliott hat jetzt das Zepter von Puff Daddy übernommen – ohne ihn allerdings von seinem Thron zu stoßen. Im Gegenteil, die Platte von Total erscheint nach wie vor auf seinem Label. Nur an den Reglern sitzt er eben nicht mehr, außer für zwei Stücke, er läßt die Dinge musikalisch laufen und beschränkt sich auf das, was er wahrscheinlich am besten kann: das Geschäftliche.
Tobias Rapp TLC: Fanmail (Arista/BMG); Total: Kima, Keisha and Pam (Bad Boy/BMG)
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