Zwischen den Rillen: Kaputte Typen inklusive
■ Dem Rock geben, was des Rockes ist: „Vitalogy“, die Neue von Pearl Jam
Wie soll man „Vitalogy“ übersetzen? Vielleicht trifft es „die Lehre (oder die Wissenschaft) vom Leben“. Auf jeden Fall etwas verdammt Wichtiges. Wichtig wie die neue Platte von Pearl Jam, die eben jenen Namen trägt und so wichtig ist, daß der Plattenfirma die Promo-Exemplare ständig ausgegangen sind, Musikredakteure Dinge sagen wie „Also, die müssen wir schon machen“ und englische Musikblätter trotz klassischer London-Zentrierung sie quasi ungehört zur „Platte der Woche“ küren, weil: Die Leser wollen schließlich ja auch mal recht bekommen.
Es ist schnell passiert und noch viel schneller erzählt, wie Pearl Jam so wichtig wurden, wie sie sind. Da war Grunge, da waren Nirvana. Und Pearl Jam waren halt auch in Seattle, machten eine erste Platte namens „Ten“. Auf der war eine Single, die hieß „Alive“ und war so ziemlich exakt das genialste aufgeblasene Stück Scheiße, das in den letzten zehn Jahren zwischen zwei Pappkartons geriet. Das Ding war klebriger als Teer, anhänglicher als senile Großmütter und hatte den Intelligenzquotienten eines Sträußchens Petersilie.
Wäre „Alive“ vom altbritischen Impresario-Erfolgsteam Chinn/Chapman (Smokie, Sweet) gemacht worden, hätte man gesagt: Klasse, laßt uns eine Viertelstunde tanzen und unseren Spaß haben und die nächste pappige Sache zu uns nehmen. Aber weil es eben nicht so war, weil Pearl Jam die Grungianer bedienten, ohne den Punkrock mitzudenken, weil sie zusätzlich denen, die peinlich berührt an ihre Plattensammlung aus den siebziger Jahren zurückdachten, die Möglichkeit gaben, sich ganz ohne Scham endlich neu zu bekennen, verkauften sie massenweise Platten.
„Vs“, die zweite, war schon ein waschechtes Monster of Rock. Mit anderen Worten: Im Zeitalter von Wertewahrung, Konsolidierung und CD-Preßwerken, wo Platten unter 70 Minuten Spielzeit vom Käufer als Beutelschneiderei empfunden werden, gaben Pearl Jam dem Rock zurück, was des Rockes ist: Ehrfurcht vor sich selbst.
Wenn man so wichtig genommen wird, nimmt man sich natürlich selbst auch wichtig. Und wer sich wichtig nimmt, nimmt sich leicht zu wichtig. Und wer sich zu wichtig nimmt, hat seinen Humor verloren. Und wer humorlos ist und sich für wichtig hält, der macht natürlich Konzeptalben. Auch weil das im Moment überhaupt wieder schick ist und, siehe oben, an die unangenehmen Seiten der Siebziger erinnert, die man nun endlich wieder toll finden kann.
Einzigartig an dieser dritten LP von Pearl Jam ist, daß keiner der unter dem Grunge-Label laufenden Neo-Rocker sich bislang so schamlos zu diesen Wurzeln bekannt hat, ohne jeden Rest von ironischer Distanz die Rituale jener Zeit kopiert. Das fängt beim Cover an, das einen schlichten, schwarzen Ledereinband nachäfft, mit Schrifttypen, die an klassische Alben von Neil Young, The Band oder Grateful Dead erinnern. Im damals üblichen arroganten Understatement verzichtet man auf den Abdruck des Gruppennamens auf der Vorderseite (ist das jetzt ihr „White Album“?). Das eingeheftete Booklet verzichtet vollständig auf moderne Gestaltungsmöglichkeiten und setzt auf den guten alten Füllfederhalter, auf eine Schreibmaschine inklusive kaputter Typen und schwer authentischer handschriftlicher Ausbesserungen. Und als allerletzten Tropfen, den das Faß nicht mehr nötig gehabt hätte, sieht das Ding frisch aus dem Zellophan geraschelt so abgestoßen aus wie aus der Flohmarktkiste.
Und die Musik? Natürlich Seventies-Rock, aufgepeppt mit verschiedenerlei Experimenten: Zweiminütiges, monotones Schaben oder kurze Geräuschhörspiele stehen recht beziehungslos zwischen den üblichen Pearl- Jam-Rocksongs und den üblichen Pearl-Jam-Balladen. Und in nur vier Zeilen aus „Restless Soul, Enjoy Your Youth“ faßt Vedder seine Komik, Tragik und Was-da- sonst-noch-Ist zusammen. Es beginnt mit der wohlfeilen und sattsam bekannten übergroßen Geste: „All that's sacred comes from youth“; dann streift ihn doch tatsächlich die Schwermut – „Dedications, naive and true / With no power, nothing to do“ – und schlußendlich kommt der kurze, trockene Leberhaken der Selbsterkenntnis: „I still remember, why don't you?“ Armer Eddie, so allein.
P.S.: Liebe Pearl-Jam-Fans und solche, die es werden wollen! Tut mir leid, daß es so ist, echt. Ihr könnt „Vitalogy“ natürlich kaufen. Ist so gut wie alles vorher und in Zukunft.
Also nichts für ungut und Amen. Euer Thomas Winkler
Pearl Jam: „Vitalogy“. Epic/ Sony, EPC 4778612.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen