Zwischen den Rillen: Euroshoppen & ficken
■ Elektronisches Spiel ohne Grenzen: Die Duos Sensorama und Ultramarine
Ganz langsam, alles zurück und dann noch mal von vorne. Eine knappe Minute wird ein Band zurückgespult und macht fluppflupp. War da nicht was? Hat man wieder alles vergessen? Blackout, Filmriß und der Hangover am Sonntagmorgen. Jetzt aber resetten und Neustart, nicht zu hastig, eher gemächlich mit einem heruntergefahrenen Mitschwingrhythmus, in den sich gleich darauf eine melancholische Harmonie hängt. Zwei Akkorde reichen. So beginnt „Sunday Morning Superstar“, ein Stück auf der neuen CD von Sensorama, lapidar und doch pathetisch „Love“ betitelt.
Jörn Elling Wuttke und Roman Flügel haben sich lange Zeit gelassen für ihr zweites Sensorama-Album. Selbst wenn sie gewollt hätten, wäre es nicht viel schneller gegangen, denn die beiden Darmstädter Produzenten – noch immer ganz das „multiple Duo“, als das sie in dieser Zeitung einst bezeichnet wurden – haben ja noch einige andere Projekte, die in Lohn und Brot gehalten werden müssen; Acid Jesus und Alter Ego seien mal als die bekanntesten genannt. Zielt man auf die Unterschiede innerhalb ihres Werkes, dürfte spätestens mit „Love“ feststehen, daß Sensorama ihr lichtestes, beschwingtestes Unternehmen ist. Der frühsommerliche Erscheinungstermin ist deshalb recht passend gewählt.
Daß das schon erwähnte „Sunday Morning Superstar“ leicht bedrückt beginnt, ist nur als kurzes Besinnen innerhalb der bis dahin (es ist das vierte Stück auf der Platte) aufgebauten Euphorie zu deuten. Denn „Love“ fängt – fast möchte man sagen: wie die Liebe generell – mit hellem Glöckchenklang an, der in einen mitnehmenden, die Viertel betonenden Rhythmus übergeht.
So ist man gleich mittendrin in jener futuro-optimistischen Stimmung, die nicht zuletzt durch Tracktitel wie „Starescalator“, „Aeroplane City“ und „Instantly Society“ ihren Ausdruck findet. Die für Flügel/ Wuttke typische perfekte Produktion, aus der der Glauben an Fortschritt und Wohlstand spricht, tut ein übriges zur Gemengelage, die „Love“ in die derzeitige Siebziger-Seligkeit einbettet, in die Erinnerung an ein Jahrzehnt, die wohlwollend über Vietnamkrieg und Ölkrise hinwegsieht.
Dabei arbeiten Sensorama im Gegensatz etwa zum hippen französischen Duo Air nicht mit offensichtlichen Anleihen oder ausgesuchtem Zitat-Chic. So sehr bei ihnen ein Retro-Feeling im Hintergrund schimmert, so sehr bewegen sie sich doch in aktuellen musikalischen Zusammenhängen. Die gute Laune ist immer bedingt durch ihre Entstehung im Club. Und der wird mit „Bronco“ oder „Superkross“ auf dieser Platte gut bedient – das muß man dann schon zu nutzen wissen. Die Belohnung wartet am Ende mit einer jubilierenden Fanfare, die das neue Zeitalter begrüßt: „Euroshop“.
Obwohl Flügel/Wuttke inzwischen ein vollkommen eigenständiges und als solches international respektiertes Werk geschaffen haben, bleibt bei ihnen die Orientierung an der britischen Electronica-Szene deutlich. Ohne die Pionierleistungen von LFO oder The Black Dog hätten sie nicht den Schub bekommen, den sie jetzt für sich arbeiten lassen.
Zu diesen Einflüssen gehört auch Ultramarine. Das englische Duo ist seit den späten achtziger Jahren aktiv und gehörte zu den ersten elektronischen Acts, deren Platten sich in der Indie-Szene großer Beliebtheit erfreuten. Ian Cooper und Paul Hammond haben immer versucht, ihre nonverbale Musik gegen den Vorwurf der Sinnleere abzuschirmen.
Deswegen fühlten sie sich im Lager der Independent-Welt und in Kollaborationen mit eher clubfremden Figuren wie Robert Wyatt wohler als beim Acid-Rave im Flugzeughangar. Daß sie nach dem Zusammenbruch der damit genannten Dichotomie selbst in eine Sinnkrise gerieten, erklärt neben den üblichen Vertragsproblemen mit diversen Plattenfirmen die lange Pause, bis „A User's Guide“ jetzt erscheinen konnte.
Den zehn Tracks ihres neuen Albums ist ein free floating eigen, ein Fließen der Sequenzen, ein uferloses Driften, das zwar von immer deutlichen Rhythmusgerüsten getragen, aber nie beschränkt wird. Im Gegenteil: Die rhythmischen Texturen (hier paßt diese abgegriffene Wendung) sind genauso offen wie die Struktur der Stücke und die Modulation von Melodien und Harmonie. Daß als Inspiratoren neben Burroughs und Ginsberg auch Thelonious Monk und Charles Mingus genannt werden, ist bei dieser Platte mehr als ein frommer Wunsch.
Dazu paßt auch, daß sie von ihren Tracks sagen, sie seien „lovingly crafted“, liebevoll gemacht. Dieses „Machen“ hat noch einen Anklang von Handwerk und zielt auf den Gegensatz zum Produzieren. Ist den Sensorama-Tracks eine starke Technizität eigen und gewinnen sie gerade ihren Reiz aus deren souveräner Beherrschung, geht es bei Ultramarine um die Rückgewinnung des handwerklichen Aspekts im Umgang mit den Maschinen. So können Cooper/Hammond Sounds benutzen, die Flügel/Wuttke gegen die Ehre gingen. Man kann also sagen, daß Sensorama den Glanz der musikalischen Legierung hervorpolieren und Ultramarine deren Formbarkeit interessiert. Auf keines von beiden möchte man verzichten. Martin Pesch
Sensorama: „Love“ (Ladomat 2000), Ultramarine: „A User's Guide“ (New Electronica)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen