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Zwischen den RillenSeele im Bauchladen

■ Der gute alte Selbsterfahrungstrip: Alanis Morissette und Lynn Miles

Es war eine dieser historischen Sekunden, wie sie das Popgeschäft kennt. Es war die Sekunde einer kleinen Kanadierin, die zuvor mit zwei nur in ihrer Heimat veröffentlichten Alben als pflegeleichte Dance- Marionette vergeblich Madonna hinterhereiferte und nun plötzlich die ganz große Klappe riskierte (und das – ha! – ausgerechnet auf Madonnas Maverick-Label). Alanis Morissette – gerade 20 geworden – sog musikalisch den letzten Atem aus einem dahinsiechenden Grunge- Torso, rechnete dazu diffus wabernde angry young women- Gefühlslagen auf den kleinsten gemeinsamen, irgendwie aufmüpfig rockenden Nenner herunter – und machte die größtmögliche Kasse damit: 28 Millionen KäuferInnen von „Jagged Little Pill“ konnten nicht irren. Weltweit.

„Wir lieben unseren Schmerz. Wir verpacken und verkaufen ihn“, sagte einmal Tori Amos so schön unverblümt über den Hang ihrer Generation zur kompromißlosen Selbstentblößung. Doch wo sich die US-Kollegin gern in kryptischen Gedankengebirgen versteigt, ließ Morissette die Kirche im Dorf. Was bei ihr vor allem hieß: im Bett. „Are you thinking of me when you fuck her?“ rief sie in ihrem signature song und Durchbruchs-Hit „You Oughta Know“ einem Ex-Lover hinterher, um sogleich neugierig nachzufragen, wie es um gewisse Qualitäten ihrer Nachfolgerin stehe. „Would she go down on you in a theater?“ Das verstand jede/r. Das schockte auch ein bißchen.

Drei Jahre und vier Grammies später will sie's gar nicht mehr so genau wissen beziehungsweise gewesen sein. Ein role model? I wo. Was kann sie schon dafür, wenn sich bis dahin brave small town girls plötzlich furchtbar verrucht vorkommen, wenn sie nur das Wort „bitch“ in den Mund nehmen (und damit letztlich doch wieder Männer in Plattenfirmen glücklich machen)? Im Video zu ihrer neuen Single steht Alanis Morissette singend auf einer Straße rum – im Prinzip nackt, en detail verweichzeichnet – und bedankt sich erstmal ein bißchen: „Thank U India.“

Und wie wär's mit ein bißchen weniger Masochismus und ein wenig mehr, ähm, Göttlichkeit? Hey, der gute, alte Selbsterfahrungstrip! Auf „Supposed Former Infatuation Junkie“ (etwa: die, von der alle annahmen, sie sei vormals auf der Droge Vernarrtsein gewesen), kauert sie nackt in Embryostellung und führt das Bekennertum aus dem Bauchladen zur vorläufigen Apotheose.

Ein Song, der gewohnt komplizierte Familienbande examiniert, heißt sogar tatsächlich „The Couch“. Und bekommt keinen Funken Witz, dessen es doch so dringend bedürfte. Andere wie „That I Would Be Good“ und „Sympathetic Character“ lesen sich wie altkluge Exzerpte aus 1.000 und einer Therapiesitzung. „Are you still mad?“ variiert sanft ihren persönlichen Urknall. In „UR“ und „One“ stilisiert sie sich im Spiegel der ihr aufoktroyierten Zuschreibungen noch einmal als schönste (und lauteste) Querulantin im Lande Psycho.

Spätestens beim fünften oder sechsten Song – insgesamt sind nicht weniger als 17 zu überstehen – plagt einen das alles und die Frage, was eigentlich so schlecht an dieser Musik ist. Abgesehen mal von den vor Selbstgerechtigkeit berstenden Texten. Ist es der feist produzierte Rock, das pseudo-experimentelle Geschwurbel und Gesummse, der Versuch, Hymnen- Taugliches zu generieren? Oder ist nicht doch vor allem diese enervierend exaltierte Stimme, die selbstverliebt vor allem Maßlosigkeit gebiert? Alanis Morissette – die Celine Dion des großen Kummerkaste(ie)ns.

Irgendwie kommt immerzu Neil Young in den Sinn, der seinen stilistischen Zickzackkurs der 80er Jahre im nachhinein damit erklärte, er hätte keine Lust gehabt, die Welt mit seinen persönlichen Problemen (der Sorge um sein geistig behindertes Kind) zu belästigen. Morissette sind solche Skrupel fremd; sie macht aus ihrem Seelenmüll einfach eine große Ego-Talkshow.

Doch Kanada hat mehr zu bieten als Young und Morissette. Lynn Miles zum Beispiel geht derselben Profession nach, minus Popstarfaktor. Auf ihrem zweiten Album „Night In A Strange Town“ läßt die Songschreiberin aus Sweetsburgh, Quebec auf der ewigen Suche nach der „Perfect Romance“ (Songtitel) zwar auch so manche Träne auf Reisen gehen – jedoch würdevoll, nicht weinerlich. In sanft strahlenden Folk- Rock-Songs wie „Beautiful Night“, „Wrong“ und „Map Of My Heart“ sublimiert sie die kleinen und großen Nöte und Wünsche jenseits prätentiöser Posen. Was nicht immer so deutlich werden muß wie im sarkastischen „Sunset Blvd.“, das ihre klare, zuweilen hübsch kippende Stimme lässig trägt und sich in die Riege der großen City Of Angels-Songs einreihen darf, irgendwo zwischen Randy Newmans fröhlichem „I Love L.A.“ und den frühen Zynismen eines Warren Zevon.

Auf ihre historische Sekunde indes wird Lynn Miles wohl vergeblich warten. Eine Zeile aus „Wrong“ aber könnte sie glatt ihrer prominenteren Kollegin ins Tagebuch schreiben: „Why do you waste your time, waste your breath, spill your tears on something so wrong?“ Jörg Feyer

Alanis Morissette: „Supposed Former Infatuation Junkie“ (Wea)

Lynn Miles: „Night In A Strange Town“ (Philo/inakustik)

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