piwik no script img

Zwischen den RillenJungsworld 2000

■ House auf französisch mit HipHop auf der Basis von Funk: Gut verrührt ergibt Cassius

In Zeiten, wo das große neue Ding sich noch in den Schlafzimmern und Garagen irgendwelcher 16jähriger verbirgt und vom Rest der Welt noch nicht wahrgenommen worden ist, regiert der Geschmack. Vor allem dann, wenn das große Ding von vorgestern die Charts regiert und das große Ding von gestern immerhin schon die Stereoanlage der älteren Schwester. In solchen Zeiten schlägt die Stunde der Bescheidwisser und ihrer Plattensammlungen – und war das noch bis vor nicht allzu langer Zeit völlig mädchenfreies Territorium, so hat sich das zum Ende des Jahrtausends etwas verschoben: willkommen in Jungsworld 2000.

Cassius sind die jüngste Ausgabe französischer Housemusik, die in der Daft-Punk-Nachfolge die europäischen Tanzflächen, Charts und Musikkanäle erobern. Mit Cassius geht es auf die Motorradrennbahn – im Videoclip sausen hier Comic-Superhelden durch die Beine von dreißig Meter hohen Pin-up- Girls. Fotografen blitzen von der Tribüne, und maskierte Bösewichter wollen den Guten und Schönen an den Kragen. Hier regieren die neu zusammengeklaubten Überbleibsel eines Pariser Jungs-Kinderzimmers aus den Siebzigern, mit allen möglichen zusammenmontierten Versatzstücken von Trash-Cultur-Americana. Von Blaxploitation-Zitaten bis zum Namen Cassius, der natürlich auf Muhammed Ali verweist. Motorradrennen und Comics, Disco und Kaugummibilder.

Philippe „Boom Bass“ Zdar und Hubert-Blanc Francart sind die beiden Köpfe hinter Cassius. Die beiden sind schwer legendär, waren sie doch schon vor Jahren für die Knöpfchendreherei bei der ersten Platte von MC Solaar verantwortlich, und nachdem sie so dem französischen HipHop einen Sound verpaßt hatten, kreierten sie als Motorbass auch noch die musikalische Vorlage für das, was nun als French House von allen gemocht und gekauft wird. Als La Funk Mob erfanden sie mit einer einzigen Platte, quasi im Vorbeigehen, auch noch den europäischen Downtempo- Sound. Cassius hört sich an wie eine chartskompatible Fusion ihres bisherigen Schaffens: House mit ein bißchen HipHop auf der Basis von Funk verrührt. Doch Cassius ist ihr erstes Projekt, wo Bild und Ton ineinandergreifen und nicht mehr ohneeinander auskommen. Im Unterschied zu den anderen französischen Erfolgsplatten wie Air oder Daft Punk, die zwar auch auffallend gute Videoclips hatten, die die Stücke schließlich in die Charts beförderten, waren dort die Tracks trotzdem zuerst da. Die teuren Clips wurden den Tracks quasi angepaßt. Doch bei Cassius ist das Konzept aus einem Guß. Das ist nicht nur oberflächlich, bunt und knallig – das paßt auch perfekt ineinander. Und ist von vornherein auf eine Größe angelegt, die den Erfolg gleich als Teil des Konzepts mit in das Image hineinnimmt.

Und die Mädchen? Die Mädchen braucht Cassius, damit auch jemand tanzt. Denn wenn in Jungsworld 2000 niemand seinen Hintern schwenkt, taugt es nicht. Immer nur die anderen Bescheidwisser, die mit dem Kopf nicken, das reicht nicht. Zumal man sich für die Titelfotos von schicken britischen Magazinen auch nicht mit seinen nackten Bescheidwisserkumpels umgeben kann. Dafür werden die Mädchen auch gebraucht. So haben es die beiden Cassius-Macher immerhin zum Attribut Sexy Boys gebracht. Obwohl sie noch alle Klamotten am Leib haben und auch sonst eigentlich eher unspektakulär aussehen. So gesehen taugt Ian Simmonds nicht viel, denn tanzen kann man zu seiner Musik nicht. Doch Simmonds, bisher als Produzent von diversen Downtempo-Platten und Mitmischer bei Pressure Drop in Erscheinung getreten, repräsentiert die andere Seite von Jungsworld: das Radikal-Geschmäcklertum. Kein Loop, der hier nicht durch diverse Coolness- Absicherungsfilter gelaufen ist, kein Sample, das nicht amtlich wäre. Jeder Sound erfreut sich letztgültiger Stilsicherheit. Musik wie eine Modestrecke über jamaikanische Biersorten der späten Fünfziger und frühen Sechziger im Londoner Hochglanz-Dekadenz-Design-Magazin Wallpaper. An keiner Stelle ist zu dick aufgetragen, nie schlägt die Platte über die Stränge, hier ein wenig Dub, dort ein Jazzbass und eine angedeutete Synthiefläche – und überall schnarrt der Snarebesen.

Die Ingredenzien der Musik sind genauso schwarz, wie ihr Protagonist und seine Herangehensweise europäisch sind. Alles, was die afroamerikanische Musik zwischen Dub und Jazz hervorgebracht hat, aber das auf das abgeklärteste Sophisticationlevel heruntergefahren. Der Sound sollte möglichst wenig Rums machen, alles ist zurückgenommen, aber ausgefeilt. Das heißt nicht blankpoliert, denn ein bißchen Patina tut jedem Track gut, aber eben als blinder Fleck eingestreut. Denn die beste Simulation ist die, die ihre Grenze zum Teil der Inszenierung macht.

30 Jahre Musikgeschichte kapiert, heißt die unausgesprochene Parole der Platte. Große Plattensammlung und so viel dahinter. Vor lauter Respekt gegenüber all dem erstarrt „The last states of nature“ in Ehrfurcht. Mädchen sind hier nicht einmal als Pin-up vorgesehen. Kein Bescheidwisser der Welt wird jemals etwas gegen die Platte einwenden können, denn sie bietet keine Angriffsfläche. Nur: Die Platte ist sturzlangweilig. Und so gesehen taugt sie erst recht nix. Tobias Rapp

Cassius: 1999 (Virgin)

Ian Simmonds: The last states of nature (Stud!o K7/ RTD)

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen