Filmfestspiele Cannes: Zwischen den Polen
■ Dissidenten in Cannes
Dissidenten werden verehrt, solange man nur weiß wogegen sie sind. Schwieriger wird die Sache, wenn man erfährt, wofür sie sind, was sie, wider die Ignoranz der Macht, als das Schöne–Gute–Wahre setzen. Es könnte sich erweisen, daß es, wie anderes auch, ein bißchen schön, gut und wahr und ein bißchen blöd ist. So ging es im letzten Jahr mit Tengis Abuladzes lang unterdrückter und zuletzt trotzdem verblassener Stalin–Parabel „Die Reue“ . Ehren– nicht qualitätshalber wurde der Film mit einem Preis bedacht und schnell vergessen. Dieses Jahr ist Dissidenz kein Thema in Cannes, jedenfalls kein vorrangiges. Glasnost und Perestroika haben den Wortführern des Pariser Diskurses die Anlässe zur schicken und preiswerten antikommunistischen Entrüstung genommen, die hier solange in Mode war. Eine neue Parole scheint noch nicht ausgegeben. Die Dreharbeiten zu Andrzej Zulawskis „Na srebrnym Globie“ (der silberne Globus) wurden vor zehn Jahren von der polnischen Regierung unterbrochen. Die bereits gefilmten Szenen wurden auf Eis gelegt, die aufwendigen Kulissen und Kostüme zerstört. Letztes Jahr durfte Zulawski seinen Film montieren, fehlende Szenen ersetzte er durch Nacherzählungen im Off. Astronauten haben die unwohnlich gewordene Erde verlassen und sind auf einem fremden Stern gestrandet. Die meisten sterben: Im Schlamm, in der Wüste, oder sie ertrinken im eigenen Blute, mit dem sie ihre Astronautenkluft vollpumpen. Ein Paar gelangt ans Meer und gründet die Menschheit neu. Die Menschen sind grausam und primitiv. Ihre Blicke sind schräg und irr, die Augen rot gerändert, die Gesten fuchtelnd und taumelnd visionär, die Haare wirr, die Gesichter blutverschmiert, und skrofelig - gerne küssen das die Frauen, wischen es mit ihren Haaren ab oder schmiegen sich daran. Die Leute werden vergewaltigt, erdolcht und gepfählt, sie rasen und sie suhlen sich, sie schreien, stöhnen und atmen schwer - zweidreiviertel Stunden lang. Die Farben sind bleich. Die Kamera wird auf den Schultern getragen, sie ist hektisch und subjektiv, manchmal wird sie zugehalten. Die Einstellungen stockend, in sich zerschnitten. Und ständig tönen Leerfragen wie „Wer bin ich“ oder Leersätze wie „Die Seele sucht Form“. Der silist jetzt schon ein historischer Film. Er zeigt die letzten Zuckungen der Avantgarde, bevor auf ihrem Dung Bonsaibäumchen gezogen wurden. Eine Scharlatanerie, quälend, aber schön und gut, denn wenn einer lallt - physisch oder metaphysisch - ist immer etwas Wahres dran. Thierry Chervel
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