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Zwischen den Jahren: Phonattacken

■ Musik für reichlich junge Ohren

Meine Großmutter nannte sie immer „die Zeit zwischen den Jahren“, diese Woche zwischen Weihnachten und Neujahr, so als mache die Zeitrechnung Arbeitspause, in der für den weiteren Weltenlauf die Griffel der Geschichtsschreibung gespitzt, die Scharniere des Weltgefüges neu abgeschmiert und die großen Periskope eingezogen werden, um die Linsen zu putzen. Tatsächlich pflegen jene Tage in der Regel ereignislos zu verlaufen, und meine Oma hätte sicher mit Genugtuung zur Kenntnis genommen, daß es vor zehn Jahren „die Russen“ waren, die die zyklische Ruhepause aufmischten, und daß die Amerikaner 1989 genügend Taktgefühl aufbrachten, ein armes Land zu überfallen, bevor das christliche Abendland der Woche der Besinnung anheimfällt.

Die Bremer Musikszene zeigt sich in diesem Jahr weniger taktvoll: Während die reisenden Stars mit oder ohne Weihnachtsbaum die Bilanzen des adventlichen Plattenumsatzes inventarisieren und sich für die phonstarken Angriffe des Frühjahres sammeln, machen die Bremer Macher Festivals, laut, subversiv, exotisch, gemein. Der Schlachthof (est nomen omen?) tut sich da am ersten Weihnachtstag in gewohnt rüder Weise hervor: Holy Fuckin‘ Christmas Party nennen sie ihre Attacke auf unser wohlverdientes Ruhebedürfnis, und die Namen der Bands, die da auftreten, lassen in der Tat Schlimmes befürchten: Rumble Militia, Children of Riot, Poltergeist, Morgoth, Holy Moses. Und das Modernes, dessen Betreiber doch wahrlich genug Erfahrung mit dem nachbarlichen Bedürfnis nach stillen Nächten haben sammeln dürfen, läßt an jenem Tage gar Musiker unter seiner Kuppel auftreten, die mit europäischer Weihnacht wohl wenig am Hut haben: Fatala aus Guinea, Aja Addy und Chi-Kale aus Ghana. Ich kenne Edus und Heiners Weihnachtsfeiertagsgebet, gerichtet an die Fans: „Don't Do It On The Road“.

Millionen von Menschen erleben Weihnachten in streng verordneter Ruhe - im Knast. Für Nelson Mandela ist es das 26. oder 27. , wenn ich mich nicht irre. Mit Beat Apartheid wird deshalb am 26. im Modernes sowas wie die Nachfeier für all jene geboten, denen trotz Brandenburger Tor und Kohl in Dresden die Weihnachtsgans immer noch nicht schmeckt. Mitfeiern werden: Baobab, Salsa Riscante, Pill Box Boys, Junge Bremer, die Dry Halleys und diverse andere. Für die ganz Harten bietet das Kairo die Alternative: 30 Seconds over Bremen heißt es dort zum wiederholten Male. Viele Bremer Bands werden dort ganz unheilig aufspielen. Meine Oma wird nicht kommen, denn sie ist seit 10 Jahren tot und das ist gut so, denn „die Zeit zwischen den Jahren“ würde sie heuer verwirren: Sie hatte Verwandte in Rumänien. ra

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