: Zweiter Test-GAU in Cadarache
Französische Wissenschaftler führen heute auf dem Testgelände in Cadarache einen Atomunfall herbei, um Erkenntnisse über die Auswirkungen solcher Katastrophen zu gewinnen ■ Aus Paris Dorothea Hahn
Super-GAUs sind beherrschbar. Das will die französische Atomindustrie heute in Cadarache unweit der Mittelmeerküste zum zweitenmal demonstrieren. Ein Bündel von 20 vorbestrahlten Brennstäben soll am Vormittag im Forschungsreaktor „Phebus“ auf 2.800 Grad erhitzt und zur Schmelze gebracht werden.
Das französische Reaktorsicherheitsinstitut (IPSN) will mit dem Experiment neue Erkenntnisse über den Verlauf einer Kernschmelze sowie über die Freisetzung von Radioaktivität gewinnen. Unter anderem sollen die einzelnen Phasen der Zerstörung des Kerns erfaßt, die Menge der Radioaktivität bestimmt und Sicherheitseinrichtungen wie die Berieselungsanlage und die Filter getestet werden. Laut IPSN werden sich daraus neue „Maßnahmen zur Schadensbegrenzung“ ergeben sowie Möglichkeiten für die Behörden, das „Management von Unfällen“ zu verbessern.
Der erste simulierte GAU (größter anzunehmender Unfall) – mit nicht vorbestrahlten Brennstäben – hatte im Dezember 1993 in Cadarache vor zahlreichen eingeladenen Journalisten stattgefunden. Die Umweltschutzorganisation Greenpeace protestierte mit einer Schornsteinbesetzung gegen das Spektakel. Insgesamt umfaßt die Testreihe sechs Versuche, die bis Anfang des nächsten Jahrtausends abgewickelt werden sollen. Finanziert wird das 1 Milliarde Francs (ca. 300 Millionen Mark) teure Programm zu je 30 Prozent von der IPSN, der staatlichen französischen Elektrizitätsgesellschaft EDF und der EU-Kommission. Den Rest zahlen Institute aus den USA, Japan, Kanada und Südkorea.
Der auf dem größten französischen Atomforschungsgelände Cadarache gelegene „Phebus“ ist der verkleinerte Nachbau eines Druckwasserreaktors des Typs, wie er 1979 im amerikanischen Harrisburg durchbrannte. „Phebus“ hat eine Spitzenleistung von 40 Megawatt. Das Modell enthält alle Hauptkomponenten eines AKW – von den Rohrleitungen und dem Dampferzeuger bis zum Reaktoreinschlußgebäude. In seiner Mitte befindet sich der Versuchskanal, in dem die Kernschmelze herbeigeführt werden soll. Stolz vermeldet das IPSN, daß seit dem ersten simulierten Super- GAU in „Phebus“, der weltweit größten Anlagen dieser Art, 30 internationale Veröffentlichungen erschienen sind. 80 Wissenschaftler arbeiten in Cadarache permanent an dem Programm. Warum die Wissenschaftler es trotz ihres geballten Fachwissens nicht geschafft haben, den zweiten Test wie geplant schon 1994 durchzuführen, behält das IPSN allerdings für sich.
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