Zweieinhalb Jahre Haft für Harry Tisch?

■ Staatsanwalt hält Veruntreuung von Gewerkschaftsgeldern für bewiesen/ Verteidigung fordert Bewährungsstrafe/ Angeklagter gesteht „politische und moralische“ Verantwortung ein

Berlin (taz) — Zwei Jahre und sechs Monate soll der ehemalige Boß des DDR-Gewerkschaftsbundes FDGB, Harry Tisch, hinter Gitter. Dies beantragte der Staatsanwalt Michael Sietz gestern vor dem Berliner Landgericht als Strafe für angebliche Veruntreuungen von Gewerkschaftsgeldern durch den ehemaligen Spitzenfunktionär. Die Verteidigung dagegen plädierte auf eine Bewährungsstrafe von sechs Monaten und beantragte außerdem eine Entschädigung für die rund einjährige Untersuchungshaft.

Das Urteil in diesem ersten Prozeß gegen einen Spitzenfunkionär des untergegangenen SED-Staats wird für kommenden Donnerstag erwartet. Der Prozeß ging nur am Rande auf die politische Rolle des Angeklagten im DDR-Herrschaftssystem ein und beschränkte sich auf den Vorwurf, Gewerkschaftsgelder veruntreut zu haben. 1984 waren auf Tischs Weisung hin 100 Millionen DDR-Mark unrechtmäßig für ein Jugendfestival der Jugendorganisation FDJ abgezweigt worden. Außerdem hatte der Angeklagte diverse Ferienaufenthalte in gewerkschaftlichen Ferienheimen für sich und seinen Familienanhang sowie für den DDR- Wirtschaftsboß Günter Mittag überaus großzügig über die FDGB-Kasse abrechnen lassen.

Nach Meinung der Anklage habe Tisch dabei seine Macht als Gewerkschaftsboß „skrupellos ausgenutzt“. Die Überweisung an die FDJ habe er eigenmächtig vorgenommen, um sich bei Staats- und Parteichef Honecker und seinem Kronprinzen Egon Krenz beliebt zu machen. Tisch selbst dagegen sprach von einer „eindeutig politischen Entscheidung“ des SED-Politbüros, für die er keine Verantwortung trage. Auch die Ferienaufenthalte Mittags waren nach Meinung der Verteidigung Repräsentationskosten, also unbedenklich. Bei Tischs privaten Ferienaufenthalten allerdings ging auch die Verteidigung von einer Straftat aus. Maximal 15.000 bis 20.000 Mark hätten sie gekostet, und Tisch hätte sie „duldend“ von seinem Sekretariat abbuchen lassen. Tisch selbst bezeichnete sich während des Prozesses als „politisch und moralisch verantwortlich“ für die Entwicklung in der DDR. Den Prozeß nannte er „fair, egal wie das Urteil ausfällt“.

Der Prozeß war über weite Strecken durch die Auseinandersetzung um Tischs angegriffenen Gesundheitszustand und seine Verhandlungsfähigkeit geprägt. Vor wenigen Wochen war er aus der Untersuchungshaft entlassen worden, weil die Höhe des Urteils eine weitere Haft nicht rechtfertigte. Tischs zweiter Verteidiger Winfried Matthäus kritisierte in seinem Plädoyer, daß sich nach der Wende jahrzehntelanger Unmut der Bevölkerung durch Anzeigen und Verleumdungen gegenüber früheren DDR-Spitzenpolitikern Luft gemacht habe. Kriminelle Delikte seien geradzu konstruiert worden. Gerade Tisch aber habe „einen erheblichen Anteil an der Wende“ gehabt. marke