: Zwei Stück Volk
■ Pünktlich am dritten Oktober hatten Georg Seidels „Königskinder“ Premiere in Esslingen
Die fahle Märchenlandschaft, die am Abend des dritten Oktober auf der Bühne des Esslinger Schauspielhauses erscheint, hat nichts von einem Zentrum der Welt. Dieser Kontrast zu den suggestiven Fernsehbildern der vorausgegangenen Nacht besänftigt jedoch nur kurz. Auch hier: „Der Ort der Geschichte ist Teutschland.“
Zwei Schlagbäume, ein hölzerner Grenzsteig, der über ein Niemandsland führt, und einige winzige Grenzsteine markieren eine karge Idylle (Ausstattung: Henning Schaller), in der sich zwei „Grenzorgane“ eingerichtet haben. Die Anerkennung einer Schlucht, die in Seidels Lustspiel zwei Länder vermeintlich trennt, beruht auf einer Sprachregelung mit massenpsychotischer Grundlage: „Man sieht die Schlucht nicht, weil sie sehr tief ist!“ so erklärt es die Gouvernante der ihr anvertrauten Prinzessin und trichtert ihr ein: „Die Brücke, die über die Schlucht führt, ist der Beweis, daß es die Schlucht gibt.“ Die Grenzen sind indessen durchlässig genug. Die Zirkulation kleinerer Warenmengen, hier der Austausch von Vesperbroten, scheint der Ideologie nicht abträglich und hat sie doch längst ausgehöhlt. Ohne Illusionen, mit einer aufreizenden Mischung aus subversiver Gemütlichkeit und devoter Kaltblütigkeit, haben sich die Grenzer (Matthias Diem, Stefan Heckel) in der Misere eingerichtet. „Falls es zur Annäherung kommt mit denen dort drüben, werden Sie dann Fragen haben?“ Diese Frage beantwortet einer der beiden mit „Nein, ich werde das schon mitmachen.“
Mit dieser Sicht von unten, als Satyrspiel, eröffnet der im Juni dieses Jahres verstorbene Dramatiker Georg Seidel sein Stück Königskinder, das bereits 1988 in Schwedt uraufgeführt wurde. Schon seit Sommer letzten Jahres war es, als westdeutsche Erstaufführung geplant, zum 3. Oktober an der Württembergischen Landesbühne angesetzt. Es kam anders. Durch die Vereinigung wurde aus der ins Märchenhafte verkleideten Satire über unerträgliche Grenzziehungen eine beißende Posse zum Tag der deutschen Einheit. Befürchtungen, daß das Stück angesichts der geschichtlichen Dauerereignisse überholt und gegenstandslos wurde, sind den Esslinger Theaterbesuchern mit dem Lachen im Halse steckengeblieben. Im Gegenteil: Das Stück erwies sich als belastbar und hat an Schärfe dazugewonnen; gewiß zu Lasten der Realität, auf die es zielt.
Dabei ist das Stück so leicht wie hintergründig konstruiert. Elemente des Satyrspiels, des (bürgerlichen) Trauerspiels und des Königsdramas lösen einander ab, werden als Gattungsformen derart verkürzt und zugespitzt, daß das Pathos ihrer Tradition in sich zusammenstürzt.
Die Regie in Esslingen (Carl-Hermann Risse) hat sich entschieden, durchgehend die Posse zu spielen, und sie hat Glück damit. Zu Hilfe kommt ihr dabei der durchgehend groteske Zug des Stückes und der mitreißende, stellenweise haarsträubende Furor, mit dem das gesamte Ensemble agiert. Wenn dadurch auch über manche nachtschwarze Seite der Königskinder zu schnell hinweggespielt wird, gerät dennoch nichts falsch. Handlungsgesetz der Posse ist es ja gerade, daß deren Protagonisten immer so tun, und deshalb wirksam irritieren, als sei alles in Ordnung. Vergeben wurde allerdings eine Möglichkeit, mit der immerhin im Programmheft (Dramaturgie: Sybille Hirzel) gespielt wird: die Grenzsituation ließe sich auch auffassen als eine unheimliche Doppelung, ja Spiegelung.
Um eine Vereinigung und deren Behinderung geht es im Trauerspielteil des Stückes. Prinzessin Katja und Prinz Peter (Beatrix Doderer, Thorsten Schade) wollen sich zwar vereinigen, fürchten aber die Heirat. Staatsraison gebietet letzteres, weshalb die Konditionen geprüft werden müssen. Erst wenn sichergestellt ist, daß das eine Land „im Uhrzeigersinn Schritt halten kann mit unserem Tempo“, ist eine Hochzeit möglich. Zwei Zeitwissenschaftler (Rudi Schul, Bruno Schaeffner) sollen das prüfen. Der eine, selbstvergessen in seine Forschungen vertieft, tritt nun aus Versehen auf den trennenden Abgrund. Die zufällige Entdeckung, daß es die Schlucht gar nicht gibt, wird den bürgerlichen Ideologen der Systemdifferenz, den zwei Wissenschaftlern und der Gouvernante (Ingrid Mülleder), zum Verhängnis. Euphorisch geworden wollen sie nun die Dünne des Bodens, auf dem sie sich vorsichtig bewegen könnten, nicht wahrhaben: „Unseren Königen werden wir ins Gesicht schreien: Alles war Lüge! Die Welt soll es auch wissen: Es gibt keine Schlucht, es gibt keine Schlucht!“ Die unsichtbaren Gräben — und vermutlich auch die verdrängten Gräber — nicht wahrzunehmen, rächt sich. Alle drei verschwinden im Verlauf des Stücks unter Getöse und Rauchentwicklung im Bühnenboden.
Die Lebenslüge zweier aufeinander fixierter Staaten ist der Stoff des Königsdrames. Ganz unangestrengt wird Seidels Stück hier zur skurrilen Geschichtstragödie, aktuell über den 3. Oktober hinaus. Kein Abgesang auf vermeintlich Überwundenes, sondern, so steht zu befürchten, die Vorschau auf unheimlich Bekanntes wird hier entworfen. Die beiden Herrscher im Zuhälter-Look (Ernst Specht, Peter J. Kemmer), Parvenus ohne Tradition, bedürfen der Legitimation. Dem dient ein Gründungsmythos des Staates, der bei beiden derselbe ist: „Der Kampf gegen den bösen Drachen“, „Hotapp mit den Kugelblitzaugen“. „Hut ab“ oder „Haut ab“? Zwölf Jahre zwischen Anpassung, Schindung oder Flucht, auf die hier verwiesen wird.
In der deutschen Theaterliteratur ist es Schillers „Wilhelm Tell“, in dem Wirkung und Funktion einer politischen Gründungslegende so grandios wie fragwürdig vorgeführt werden: Das mythische Ursprungsdenken („Die Brut des Drachen haben wir getötet“) ist dort die nachgetragene Rechtfertigung der Vereinigung des schlechthin Heterogenen: „Wir sind ein Volk“.
Böse Ironie Seidels und der geschichtlichen Realität zugleich: in seinem Stück hat der auswärtige Kaiser den Drachen erschlagen. Wurde im „Tell“ die Staatsgründung gegen den „Kaiser“ durchgesetzt, erscheint sie hier als geschenkt und verfügt. Soweit, so richtig — und bekannt. Die Posse hat aber ihre eigene Logik der Übertreibung: Der Kaiser, in Esslingen der naive und liebe Märchenkaiser, wird von beiden Königen vergiftet (es darf hier auch an Gorbatschow gedacht werden), ahnungslos, daß sie sich selbst auch schon gegenseitig vergiftet haben. Die Katastrophe ist nicht mehr aufzuhalten.
„Ein Stück Volk“, so nennt der König einmal seinen Grenzbeamten. Neben den verstörten Königskindern sind die beiden Grenzer/Clowns die eigentlichen Überlebenden. Zweimal „ein Stück Volk“. Was werden sie tun? Sie lassen die Gouvernante Spreizschritt machen. Von dorther keine Hoffnung. Für die Königskinder und den Mut seines Autors aber gilt, was Bloch über den Witz anmerkte: „Kühner wird der Witz, wenn er Neues selber schnöde vormacht. Wenn er gar mit dem Dunklen darin spielt und es in prickelndes Grauen auflöst. Das Prickelnde darin bezeichnet allemal das Vergnügen daran, daß es nun nicht mehr mit rechten, das heißt gewohnten Dingen zugeht.“ Thomas Milz
Goerg Seidel: Königskinder, Regie: Hermann Risse, Ausstattung: Henning Schaller, mit Matthias Diem, Stefan Heckel, Ingrid Müllender. Württembergische Landesbühne Esslingen
Weitere Aufführungen: 21., 24., 27. Oktober
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