Zwei Selbsttests: Im Rausch der Zeit
Wie kommt man am schnellsten zum Flughafen Schönefeld - über die neue A 113 oder mit der S-Bahn? Der taz-Test zur Eröffnung der Autobahnstrecke.
IM AUTO: MAGNUS BLEIFUSS
18.30 Uhr, Rudi-Dutschke-Straße 23. Der Motor surrt, ich spiele mit dem Drehzahlmesser. Es geht los Richtung Flughafen Schönefeld. Ich fahre zuerst die Markgrafen- und Lindenstraße. Das Tempo-30-Schild stört mich nicht.
18.32 Uhr, Jüdisches Museum. Ich nehme ein wenig Gas weg, weil sich Schupos in der Nähe herumtreiben. Die erste gelbe Ampel lasse ich an der Kreuzung Waterloo-Ufer hinter mir. Die zweite gelb-rote Ampel überspringe ich an der Blücherstraße.
18.33 Uhr, Urbanstraße. Der Verkehr rollt mir etwas zu gemächlich in Richtung Urbankrankenhaus. Mehrmals ziehe ich rechts vorbei. Dem leichten Druck auf das Gaspedal folgt jedes Mal ein Sprung nach vorn. Ich werde in den Sitz gepresst. Der Dreilitermotor mit über 300 PS und 6 Zylindern lässt die beiden Auspuffrohre pusten. Er zieht fantastisch.
18.35 Uhr, das "Urban" fliegt vorbei. Dann muss ich bremsen, weil ein Mitsubishi Colt nach Tempovorschrift fährt.
18.37 Uhr, am Hermannplatz habe ich Glück, es fließt.
18.40 Uhr, die Karl-Marx-Straße ist stark befahren, es geht Bump-to-Bump. Ich habe das Gefühl, jede Ampel springt auf Rot. "Mein Gott." Es ist wie verhext. Am Rathaus stehe ich, am S-Bahnhof Neukölln ebenso. An der Silbersteinstraße haben sie wohl die Grünphase vergessen! Zweimal muss ich hupen, damit die vorne losfahren. Ich quetsche mich mit rüber - fast bei Rot.
18.41 Uhr, in Richtung Grenzallee lässt die Dichte nach. Ich kann wieder draufdrücken, lasse einen tiefergelegten BMW hinter mir. Die Straße wird breiter, mein Tempo wieder höher.
18.44 Uhr, Grenzallee, ich sehe die Autobahn vor mir. Das hebt die Stimmung.
18.45 Uhr, endlich Autobahn. Ich jage die Auffahrt hinauf, bin auf der Piste mit 50, 70, 100 Sachen. Der Motor heult. Bis auf 247 km/h könnte ich gehen. Ich sitze in einem richtigen Auto, 17 Liter Super auf 100. Ich ziehe nach links, denke an meine Lichthupe. Die Pkws klappen zur Mitte oder nach rechts. Fünfter Gang. Freie Fahrt, die blauen Schilder der A 113 nach Schönefeld sausen vorbei, ich fliege.
18.47 Uhr, nach der Abfahrt Johannisthaler Chaussee wird der Verkehr noch weniger. Ich bin kurzzeitig in einem sehr rallyeverdächtigen Geschwindigkeitsbereich und nehme den Fuß vom Gas. Wozu auch rasen, es läuft auf der neuen Autobahn "wie in den 50er-Jahren" - fast keine Fahrzeuge.
18.48 Uhr, Adlerhof, ich erreiche fast allein das neueste Teilstück der A 113. Heute fliegt wohl jeder von Tegel ab. Alles ist neu, von der Fahrbahn könnte man essen, die Lärmschutzwände glitzern. Ich drücke die Kiste in den ersten Tunnel, es folgt gleich darauf der zweite, ebenso hell erleuchtet. Renée Sintenis Bär grüßt: Ich habe Berlin verlassen.
18.50 Uhr, ich sehe das Schild "Abfahrt Schönefeld".
18.51 Uhr, ich verlasse die Autobahn, der Wagen rollt aus, ich fädele mich auf der B 96 ein. Dort erinnert das Tempo an die Zeit vor der Fertigstellung der A 113.
18.52 Uhr, links drüben ist bereits das Flughafengebäude in Sicht. Weil sich ein Motorradfahrer aber mit der Landschaft beschäftigt statt mit dem Verkehr, stoppt uns noch einmal eine Ampel. Es ist die letzte.
18.55 Uhr, ich bin am Ziel: Eingangshalle Abflug/Ankunft. Geschafft in 25 Minuten. Aber wie.
MIT DER BAHN: JOANNA ITZEK
18.30 Uhr, Rudi-Dutschke-Straße 23. Laut BVG soll ich von hier in 46 Minuten am Flughafen Schönefeld sein. Mal sehen.
18.31 Uhr, Ankunft in der U-Bahn-Station Kochstraße und Fahrkartenkauf. Nachdem Schönefeld gerade in die Tarifzone C verlegt wurde, kostet eine Fahrt zum Flughafen jetzt 2,80 Euro. Ein kleiner Junge lehnt am Automaten und trötet eine Art Mantra aus zwei schiefen Tönen. Ich stopfe Geld in die Maschine und hoffe, dass die Bahn nicht kommt, bevor ich den Fahrschein habe.
18.35 Uhr, die U 6 fährt unter größtmöglichem Gequietsche ein und übertönt das Mantrakind. Es gibt noch freie Sitzplätze gegenüber einem Werbeplakat: "Hat ihr Interesse an Sexualität nachgelassen, seit sie die Pille nehmen?", fragt es. Bevor ich zu einer befriedigenden Antwort komme, erreichen wir die Station Friedrichstraße. Umsteigen.
18.40 Uhr, der übliche Wahnsinn regiert. "Wenn hier mal was passiert, ist aller Tage Abend!", prophezeit eine Frau in Anbetracht des Fehlens von Fluchtwegen, als wir dicht an dicht im Menschenstau auf der Treppe stehen, die uns aus dem U-Bahn-Schacht nach oben zu den S-Bahnen führt. Sie hat recht.
18.44 Uhr, der Bahnsteig der S 9 ist erreicht, und eine Minute später fährt sie ab. So weit verläuft alles nach Plan. Mit Gepäck hätte ich den Anschlusszug allerdings nicht erwischt. Im Waggon sitzt Flughafenpublikum: zwei Paare, das eine jung, das andere eher nicht. Alle haben generationenübergreifende Rollkoffer vor sich aufgetürmt. Die Jungen lesen sich laut aus Broschüren des WDR und SWR vor. Die Älteren gucken stumm aus den Fenstern, er nach links, sie nach rechts. Seit fliegen so günstig geworden ist, sind Fahrten zum Flughafen nichts Besonderes mehr, sie passieren beiläufig. Niemand scheint mehr aufgeregt zu sein. Zum Flughafen Schönefeld fahren ist wie zu Aldi gehen. Tatsächlich ist Schönefeld aber auch der Aldi unter den Flughäfen. Was die Raumästhetik betrifft: hässlich wie Sau. Trotzdem ist man ständig da, weil die Angebote so gut sind.
19.19 Uhr, Halt in Altglienicke. Mehr Menschen und mehr Rollkoffer haben sich eingefunden. Wohin fliegen die wohl alle? Reykjavík? Rom? "Nö, nach Stuttgart will ich", sagt der Mann neben mir. Mit dem Unterhaltungswert dieser S-Bahn-Fahrt ist das so eine Sache.
19.25 Uhr, der Zug stoppt im S-Bahnhof Schönefeld, nach 50 Minuten des Fahrens und Umsteigens. Die BVG hat sich in ihrer Reiseauskunft also um 4 Minuten verkalkuliert. Oder wir sind zwischen Altglienicke und Schönefeld in eine andere Zeitzone gerutscht. Aus allen acht Waggons strömen die Menschen Aldi-Airport entgegen.
19.31 Uhr, nach einer Stunde und einer Minute stehe ich vor dem Haupteingang. Schnell ist was anderes. Dafür muss ich mir keine Gedanken machen, wo ich nun das Auto lasse. Und kann ein neues Zweitonmantra tröten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin