■ Zur pessimistischen Grundstimmung im Land: Wohlstand adé?
Plötzlich sind sie sichtbar in Deutschland: die Schlangen vor dem Sozialamt, die Obdachlosen in der Fußgängerzone. Auch die Geringverdienenden, die ohne Wohngeld mit dem Lohn ihrer Arbeit vorne und hinten nicht auskommen, werden vor Fernsehkameras und Radiomikrophone gebeten – gerade so, als ob sie just seit Erfindung des Kohlschen Solidarpakts in ihre jeweilige Lebenslage geraten wären. „Wohlstand adé“ titelt gar Deutschlands berühmtestes Nachrichtenmagazin und behauptet, daß „auf Jahre hinaus verzichtet, gespart, geopfert werden“ müsse. Deutschland, so lernen wir, befindet sich geradewegs auf dem Abstieg zum Armenhaus. Selbst gutsituierte Mittelschichtsmenschen sind überzeugt, daß „es“ noch schlimmer kommen wird.
Sicher: Die Wirtschaft befindet sich seit drei Monaten in einer Flaute, die nach Meinung fast aller Wirtschaftsforscher rund ein Jahr währen wird; einem Jahr, in dem die Wirtschaft um ein Prozentpünktchen schrumpfen wird. Sicher: Die öffentlichen Haushalte sind hochverschuldet, die angekündigten Sparmaßnahmen der Regierung werden zur Sanierung derselben nicht ausreichen. Sicher: Die Rundum-Sozialsicherung, die heute keinesfalls am Existenzminimum, sondern am Einkommen orientiert ist, wird nicht mehr lange finanzierbar sein. Sicher: Wer jetzt schon zu den oben genannten Gruppen gehört, wird es 1993 noch schwerer haben. Völlig absurd ist jedoch der neue Glaube, daß ausgerechnet die Bundesrepublik zum Armenhaus wird. Die Generation der Erben, drei Billionen Mark gut angelegtes privates Barvermögen, die gar nicht so wenigen Menschen, die als Alleinstehende 60.000 Mark und mehr im Jahr verdienen, sind ebenso wie die neuentdeckte Armut gesellschaftliche Realität. Auch im Jahr 2000 werden die guten Durchschnittsverdiener die Mehrheit der Bevölkerung stellen.
Obwohl also die Angst vor Verarmung für die Mehrheit der Bevölkerung unbegründet ist, wirkt sie fatal: Wer den Abstieg fürchtet, wird bemüht sein, sich nur ja nichts wegnehmen zu lassen – und um so lieber glauben, daß Sozialhilfeempfänger Schnorrer sind und Arbeitslose sich auf Kosten der Steuerzahler in die soziale Hängematte legen. Für Kohl wird es sehr viel leichter, seine Politik der gesellschaftlichen Spaltung durchzusetzen, die seit seinem Amtsantritt vor zehn Jahren die Armen systematisch benachteiligt. Donata Riedel
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