■ Zur Forderung der Bündnisgrünen, intelligent zu wählen: Bizarre Erststimmenkampagne
Das langsame Reifen eines Erkenntnisprozesses verfolgen zu dürfen, ist immer wieder ein beglückendes Erlebnis, selbst wenn es sich bei der Erkenntnis um eine Binsenweisheit handelt. In der letzten Woche vor den Bundestagswahlen dämmert nun also auch der Führungsspitze von Bündnis 90/Die Grünen, daß der Wiedereinzug der PDS ins Parlament die Chancen für eine rot-grüne Regierungsmehrheit bei der Bundestagswahl mindert. Da kann man wohl nur gratulieren.
Der Aufruf, die Wähler der Grünen sollten „intelligent mit ihrer Erststimme umgehen“ – zu deutsch: in Wahlkreisen mit aussichtsreichen PDS-Direktkandidaten die jeweiligen SPD-Konkurrenten wählen –, kommt zu spät. Zwar mögen einige dem Folge leisten, aber vielleicht wählen sie dann entgegen ihrer ursprünglichen Absicht gleich auch noch mit der Zweitstimme die Sozialdemokraten. Zu diesem Entschluß könnten vor allem diejenigen kommen, die schon länger finden, die Partei nehme auf ehemalige Größen im Osten wenig Rücksicht.
Es ist ein Unterschied, ob eine Partei in einer gezielten Kampagne um Zweitstimmen wirbt oder ausdrücklich davon abrät, die eigenen Leute zu wählen. Es ist nur bizarr, wenn der Parlamentarische Geschäftsführer Werner Schulz, Direktkandidat in Sachsen, explizit dazu aufruft, die Erststimme der SPD zu geben, um ein CDU-Mandat zu verhindern. Schulz hat ja einen sicheren Listenplatz. Eine gefährdete Kandidatin wie Marianne Birthler auf diese Weise zu demontieren, ist dagegen schlicht unfair. Deren Ansehen haben die Grünen bei der Vereinigung mit Bündnis 90 gerne genutzt. Jetzt, wo alles in trockenen Tüchern ist, wird sie nicht mehr gebraucht.
Natürlich ist es sinnvoll, dort mit der Erststimme SPD zu wählen, wo die Direktkandidaten der Bündnisgrünen keine Chance haben. Aber dann hätten diese gar nicht erst in ein aussichtsloses Rennen geschickt werden dürfen.
Nun ist bündnisgrünen Spitzenpolitikern selbstverständlich in Wahrheit nicht erst jetzt aufgefallen, daß die PDS den angestrebten Regierungswechsel gefährdet. Aber sie waren halt beleidigt, daß die SPD sich allen zaghaften Vorstößen verweigert hat, zu Absprachen zu gelangen und für den Verzicht auf manche Direktkandidaturen ihrerseits an einigen Orten nicht so heftig um Zweitstimmen zu werben. Die Folgen hätten sie sich früher überlegen müssen. Eine Rolle rückwärts zum jetzigen Zeitpunkt ist eine gefährliche Übung. Bettina Gaus
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