■ Zur Entführung eines israelischen Soldaten durch Hamas: Platzt der Frieden?
Heute abend um 21 Uhr wird das Ultimatum der Entführer des israelischen Soldaten Nachschon Wachsmann ablaufen. Der Termin ist mit zynischem Kalkül gewählt: Heute ist der Tag, an dem der Friedensnobelpreis verliehen wird, für den Jitzhak Rabin und Jassir Arafat im Gespräch sind. Auf einem Video, das dem israelischen Fernsehen zugespielt wurde, sieht man den 19jährigen mit grauem Gesicht vor einem Vermummten hocken, der einen Spruch aus dem Koran vorliest: „Im Namen des gütigen Allah. Ermordet sie. Gott wird euch helfen.“ Die zum Genickschuß bereite MG im Nacken, bittet Wachsmann seine Regierung, der grotesken Forderung der Hamas-Leute nach Freilassung von 200 ihrer Funktionäre stattzugeben, denn sonst werde man ihn erschießen. Er weiß – wie ganz Israel weiß –, daß seine Chancen sehr schlecht stehen. Von den 17 Soldaten, die seit 1973 von Palästinensern entführt worden sind, ist kaum einer mit dem Leben davon gekommen.
Nichts, kein Anschlag, keine militante Demonstration, kein Attentat hat den Friedensprozeß bisher so gefährdet wie diese Entführung. Als im Dezember 1992 der Grenzpolizist Nissam Toledo entführt und ermordet worden war, ließ Rabin 400 Aktivisten der Hamas ins Niemandsland schicken. Wenn Wachsmann stirbt, wenn es Arafat nicht gelingt, seine Ermordung zu verhindern, platzt der Frieden. Schon jetzt ist den 65.000 Arbeitern aus dem Gaza-Streifen der Zutritt zum Kernland verwehrt.
Ist das nötig? Ist das Leben eines einzelnen Soldaten es wert, den zarten Sieg der Vernunft, den Triumph der Versöhnlichkeit aufs Spiel zu setzen? Ja, es ist. Das Geheimnis der israelischen Armee ist, daß sie, wie keine andere Armee der Welt, mit der Gesellschaft, die sie schützt, verwoben ist. Teenager, Professoren, Schriftsteller, Holocaust-Überlebende – Männer und Frauen geben der Armee einen Großteil ihrer besten Jahre. Und das nicht (nur) auf administrativen Druck, sondern weil sie ihre Raison d'être achselzuckend einsehen. Auch wenn man nicht so weit gehen will wie Claude Lanzmann, der behauptet, Juden hätten die Stiernackigkeit oder den Hang zum Blutrausch einfach nicht in ihren Genen – jeder Schritt, den die Armee auf die Barbarei zumacht, wird von der Gesellschaft in aller Freundschaft wieder zurückgenommen. Ein mit dem Tod bedrohter Soldat ist tatsächlich „einer von uns“, so wie der Flieger Ron Arad, der im Libanon verschwand und für den es inzwischen Schlager, Radiosendungen und sogar Fanclubs gibt. Solange die Hamas diese einzelnen bedroht, solange ein Nachschon Wachsmann nicht durch sein Land trampen kann, ohne in ihre Mörderhände zu fallen, kann es eben wirklich keinen Frieden geben. Mariam Niroumand
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