■ Zur Einkehr: Steintor-Schänke
Holzvertäfelung an der Wand? Brauner versiffter Teppichboden? Oder waren's zerschundene Steine? Jedenfalls haben sich dort mal zwei junge Hunde ineinander verkeilt, bis der scherzende Übermut zu blutig-schmer-zenden Schnauzen führte. Und keiner schritt ein. Weil man hier gegen das Leben nicht einschreitet. Nein, wie die Innenausstattung der Schänke zusammengestöpselt ist, läßt sich in keiner Ablage des Gedächtnisses aufstöbern. Nur noch verschwommene Erinnerungssplitter: Der Bahnhofswarteraum-Appeal der kargen Holzbank an der Wand. Das Hängeohr eines Plakats. Kein Wunder: Die Schänke betritt man mit einem seelischen Rüstzeug von 0,6 Promille und verläßt sie dann, wenn das erste bedenkliche Stolpern über die Toilettenschwelle es nahelegt. Ein Zustand, der mit messerscharfer Genauigkeit die Spiegelungswunder in fremden Brillengläsern verfolgen läßt und den haarfeinen Sprung im Verputz zur Grenzlinie zwischen Frankreich und Deutschland umdeutet. Der Sinn fürs Große und Ganze aber ist abhanden gekommen.
Alles gerät ins Schlingern. Auch die Kugel im Kickerapparat. Sie zeigt eindeutige Neigungen für die rote Fünferlinie, überlegt es sich, macht kehrt und sympathisiert mit Blau. Keine Frage, der Boden des Apparats ist krumm – aber nicht ungerecht. Keine Seite wird bevorzugt. Wie schön!
Ein Araber auf Krücken mit verwachsenem Buckel holpert heran und fordert sein Spiel. Oh je, ein Objekt des Mitleids sucht die Niederlage. Was tun? Nichts. Denn im drangsalierten Körper stecken ungeahnte Schnellkräfte, mehr als in genormten Handgelenken. Keine Chance also, 6:2. Auch nicht zu verachten ist der Ballzauber der Besoffenen. Auf den Gesichtern schwebt ein teigiges Lächeln, aber im Unterarm ballt sich hellwache Spannung. Wusch, diesen langsamen Ball hat er gnadenlos verpaßt, aber der nächste rollt ins Visier der geschärften Restaufmerksamkeit und wird gebrettert als wäre Häßlers Fuß im Spiel. Am entspannten Lachen aber ändert sich nichts. Haake-Beck, aus Flaschen genuckelt, macht unehrgeizig, also gut. Auf der Ablage neben dem Kicker liegt ein verdächtig-dickes Notizbuch. Der neugierige Blick entdeckt ein wuseliges Tapetenmuster aus kalligraphisch-präzisen, zwei Millimeter hohen Buchstaben. „Mein Tagebuch. Jeden Abend trage ich eine Seite ein.“Der Schweiger mit dem dezenten, überlegenen Lächeln schreibt mehr als Peter Handke. Vielleicht auch besser? Rammstein schreit Sehnsucht. Und über der Theke hängt der Zettel: „Musik geht nicht lauter.“ bk
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen